Kapitel II

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II. Tag

Die Sonne ging auf und es begann ein neuer Tag. Wie immer wachte er mit der Sonne auf, wie das bei jedem Elfen üblich war. Die Natur hatte es so bestimmt, dass ein Elf niemals nach Sonnenaufgang erwachte, sondern jeden Tag geschieht beides zugleich. Er schwang seine Beine aus dem Bett und setzte sich zu Goan an den Frühstückstisch. Sein Bruder war fast jeden Tag noch ein bisschen schneller wach. Es hieß ja nicht, dass ein Elf nicht vor Sonnenaufgang aufwachen dürfe. Außerdem würde heute ein ganz besonderer Tag für ihn. Er würde zum Nachtturnier aufbrechen.  

Deshalb saß er auch schon mit einem breiten Lächeln über dem ganzen Gesicht vor Jiran und hielt ihm Brot und Käse hin. Jiran nahm es dankend an. 

„Iss nur ruhig fertig, aber ich werde schon einmal gehen. Ich will schließlich nicht zu spät kommen. Ich bringe dir auch schöne Trophäen mit." 

Er zwinkerte, verabschiedete sich und verließ das Haus. 

Jiran aß fertig. Vielleicht nicht so langsam und ruhig, wie es ihm sein Bruder empfohlen hatte, aber auch er hatte gute Laune und Lust auf den Unterricht bei Maryn. Er nahm seinen Bogen aus der Ecke, wo er ihn abgestellt hatte und verließ ebenfalls das Haus.

Er gelangte zu den Übungsplätzen, wo ihn Maryn schon erwartete und Jiran eröffnete.  

„Wir machen heute theoretischen Unterricht in der Tiala."  

Sie ließen daher die Übungsplätze hinter sich und hielten auf die Tiala zu, die sich am anderen Ende der Stadt befand und trotzdem recht gut zu sehen war. Die Hauptstraße führte nämlich direkt darauf zu. Außerdem war die Tiala nicht gerade klein und eines der wenigen Gebäude, das mit dem Boden auf der Erde stand und nicht in den Bäumen hing.  

Jede der sieben großen und einzigen Elfenstädte hatte etwas, dass die jeweilige Stadt auszeichnete. Das meiste davon waren bestimmte Waren, aber auch andere Dinge konnten eine Stadt auszeichnen. Ryonin zeichnete sich durch eben diese Tiala aus, die auch manchmal als Palast des Wissens bezeichnet wurde, denn sie war ein großes Gebäude, in dem die gelehrtesten Männer der Elfen lebten, studierten und philosophierten. Auch wurden in der Tiala Gelehrte ausgebildet, die dann in andere Städte reisten, um als Ratgeber zu dienen. Und es fand in der Tiala sämtlicher Unterricht von Ryonin statt, wie auch jetzt sein theoretischer Unterricht bei Maryn.  

Die Tiala bestand aus mehreren Stockwerken. Alle zusammen sahen aus wie ein riesiger Baum-stumpf. Flaches Dach, raue, nach Rinde aussehende, Außenmauern und darin hohe eingelassene Fens-ter, mit verschiedenfarbigem Glas. Das einzige, was nicht einem Baumstumpf entsprach war das Loch in der Mitte der Tiala, der große Innenhof, um den viele andere Städte Ryonin beneideten.  

Als sie die Tiala erreichten, öffneten sich die zwei hohen Eingangsflügel wie von selbst. Sie schwan-gen nach innen auf und nachdem sie durch den folgenden Flur gegangen waren, standen sie erneut vor zwei hohen geöffneten Flügeln, die den Blick auf den wunderschön gestalteten Innenhof freigaben. Dort blühten Blumen, wie sie im gesamten heiligen Wald nicht zu finden waren. Sie blühten nur hier. Ihre Farben reichten von tiefschwarzen Blüten, bis zu weißen, die so strahlten, dass man sie nicht lange anschauen konnte. Seine liebste Blume war eigentlich keine Blume, sondern mehr eine Ranke, die sich an einer der vielen Säulen, die über den Hof verteilt waren und nicht nur zum Schmuck dort standen, sondern auch, um Ranken, wie seiner Lieblingspflanze, eine Hilfe beim Wachsen zu sein.  

Seine Lieblingspflanze hatte schwarze Äste, aber blutrote Blätter und Blüten die ein ganzes Jahr lang blühten. Sie hieß sanguineus noctus, was übersetzt so viel wie blutrote Nacht heißt. Jeder andere würde sich eine der strahlenden Blumen aussuchen, er nicht, ihm gefiel diese Pflanze am besten. Warum konnte er nicht so genau sagen.  

Der Blutschrein [1] - Die EntführungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt