Nicht jeder Otto-Normal-Mensch bekommt diese einmalige Gelegenheit, an der wohl exklusivsten Veranstaltung des Jahres der Moskauer High Society teilzunehmen. Ich bin ein Otto-Normal-Mensch. Durch und durch.
Natürlich hatten die Gerüchte auch mich irgendwann in meinen Teenager-Jahren erreicht, doch diese fantastischen Geschichten waren einfach zu ... fantastisch, um eben wahr zu sein. Welches kleine Mädchen träumte denn nicht davon, einmal im Leben Teil eines solchen Abends zu sein? Zurechtgemacht wie eine Prinzessin - angehimmelt von den mächtigsten und schönsten Moskauer Junggesellen? Und doch unerkannt zu bleiben, um den Zauber zu wahren?
Das war der Platina-Ball. Das Ereignis. Etwas, worauf alle jungen Damen der Stadt hinfieberten und sich gefühlt das ganze Jahr, immer und immer wieder, darauf vorbereiteten, selbst wenn sie alle wussten, dass die Wahrscheinlichkeit eine Einladung zu erhalten beinahe bei unter einem Prozent lag. Und doch wogen der Traum und die Vorstellung einmal dabei zu sein viel mehr, als die Realität oder das logische Denken.
Mein Name ist Alika Zueva. Eigentlich hatte ich mich selbst immer für relativ realitätsnah und pragmatisch gehalten. Bis zum heutigen Morgen, als ich in meinen Briefkasten geschaut hatte und ein silberner, dicker Briefumschlag zum Vorschein kam. In schwungvollen Buchstaben stand mein Name drauf, kein Absender, keine Briefmarke, kein Stempel. Einfach nur mein Name.
Und nun saß ich hier auf meinem Sofa, hielt den Umschlag in meinen Händen und wusste nicht so recht, ob ich ihn öffnen sollte oder nicht. Weder hatte ich Post erwartet, noch gab es jemanden in meinem Leben, der einfach mal so etwas in meinen Briefkasten werfen würde. Keine Sekunde verschwendete ich einen Gedanken daran, dass es sich dabei um das handeln könnte, wovon all meine Freundinnen in den vergangenen drei Wochen geschwärmt und geträumt hatten.
Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft dieser verdammte Ball zur Sprache gebracht worden war und wie oft ich eigentlich mehr unbeteiligt in unserer Runde gesessen hatte, um mich dem Thema zu enthalten. Ich hatte mir nie im Geringsten auch nur die Illusion gemacht, eine Einladung zu erhalten und somit war die gesamte Thematik für mich nicht von Belang.
Um erst einmal nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, ließ ich den Umschlag einfach auf meinen Couchtisch fallen und begab mich in meine Küche um mir einen Tee zu kochen. Eine kleine Marotte von mir, wenn ich mich vor etwas zu drücken versuchte und doch genau wusste, dass ich mich früher oder später eh dem stellen musste, wovon auch immer ich mich jeweils abzulenken versuchte.
In meinen Gedanken und Spekulationen rund um das mysteriöse Briefkuvert vertieft bemerkte ich zuerst nicht, wie mein Teekessel auf dem Herd vermutlich sämtliche meiner Nachbarn zum nächsten Tinitus verhalf. Hastig schnappte ich mir ein Geschirrtuch und setzte den heißen Kessel auf ein bereitgestelltes Holzbrettchen um, mit meiner freien linken Hand fischte ich eine Teemischung aus dem Hochschrank und kramte daraufhin nach meinem Teesieb, um endlich wieder aus der Küche herauszukommen. Denn egal wie sehr ich versuchte mich mit Nichtigkeiten wie Teekochen abzulenken, so war ich nun einmal auch einfach eine neugierige junge Frau, der es in den Fingern kribbelte, endlich diesen ominösen Umschlag zu öffnen.
Mit einer frischgebrühten Tasse Grünem Tee in der Hand schlich ich also wieder zu meinem Sofa und bedachte das silberne Objekt auf meinem kleinen Tischchen mit Argwohn und Skepsis. Ich ließ mich auf die breite Sitzfläche fallen, legte mir meine graue Lieblingsdecke über den Schoß und nippte an meinem noch viel zu heißen Tee. Ich schüttelte den Kopf wegen meiner Ungeschicktheit und stellte die Tasse ab, straffte die Schultern und schnappte mir, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, das Kuvert und brach das tiefrote Siegel auf der Rückseite auf. Schwer atmend und mit zittrigen Fingern versuchte ich das Blatt Papier herauszufischen, ohne mich zu schneiden, denn das war eines von vielen ungewollten und ungeliebten Talenten, welches in mir schlummerte.
Das dicke, zum Vorschein gekommene, teure Briefpapier faszinierte mich. Ich erinnerte mich an meine Kindheit zurück, als ich mit meinen Eltern manchmal an einem alten Schreibwarenladen vorbeispaziert war und meine Nase immer am Schaufenster plattgedrückt hatte. Nicht, dass ich eine große Briefe-Schreiberin war, ganz im Gegenteil. Als Individuum des 21. Jahrhunderts lief bei mir natürlich alles digital ab. Egal ob iPhone, MacBook, eBook-Reader oder dergleichen – ohne die Technik von heute wären ich und wahrscheinlich auch alle anderen Menschen mittlerweile aufgeschmissen.
Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich musste mich konzentrieren und durfte leider nicht in die Vergangenheit abdriften, so schön die Erinnerungen und auch waren.
Ich entfaltete das Blatt Papier und erstarrte. Immer und immer wieder flogen meine Augen über den in feinster Schönschrift geschriebenen Text und doch konnte mein Verstand einfach nicht verarbeiten, was ich da vor mir hatte. Ich schluckte hart.
Bei Gott, wenn jemand bei mir gewesen wäre, ich hätte darum gebeten gekniffen zu werden.
Ich hielt tatsächlich eine Einladung zum Platina-Ball in meinen Händen.

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Maskenball - Nur ein Augenblick - ABGESCHLOSSEN-
ChickLitDer Platina-Ball. DAS Ereignis des Jahres der Moskauer High Society. Nur ausgewählte Oligarchen, erfolgreiche Emporkömmlinge und die schönsten der Schönen haben als persönlich eingeladene Gäste Zutritt. Alika Zueva ist weder reich, noch besonders s...