Kapitel 2

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Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie lange Raisa und ich an diesem Abend noch bei ihr auf dem Bett gelegen hatten und immer wieder jedes Wort aus dieser Einladung einzeln analysiert und auseinandergenommen hatten. Wir konnten es beide nicht fassen. Im Internet hatten wir erfolglos versucht an irgendwelche Informationen zu kommen, Hinweise, abschreckende Warnungen – IRGENDWAS!

Aber dieser Ball schien tatsächlich eines der am besten behütetsten Geheimnisse in Moskau, wenn nicht sogar in ganz Russland zu sein. Wir hatten lediglich in Erfahrung bringen können, dass er offenbar jedes Jahr an einem anderen Ort in Moskau stattfand. Mehr aber auch nicht. Somit konnte ich noch nicht einmal versuchen mich mit einer eventuellen Örtlichkeit vertraut zu machen. Andererseits hätte ich wahrscheinlich nicht einmal Zutritt bekommen. In meinem Kopf hatte ich mir die wildesten Storys zusammengesponnen über Luxushotels, geheime Kellergänge und riesigen unterirdischen Räumen, von denen keiner wissen konnte und welche eigens für den Platina-Ball mal eben aus der Erde gestampft wurden.

Raisa hatte mich bei jeder abstrusen Idee schallend ausgelacht und sich teilweise den Bauch vor Schmerzen gehalten, während sie sich die Tränen versucht hatte aus den Augenwinkeln zu wischen. Das war einer der Gründe, warum ich sie als beste Freundin so sehr schätzte. Egal wie viel Stuss und Unsinn ich von mir gab, sie ließ mich immer machen und hatte Spaß mit mir dabei. Und wenn es dann einmal zu abgefahren wurde, konnte sie mich schnurstracks wieder auf den Boden der Tatsachen holen.


In der darauffolgenden Woche kam sie am Donnerstagnachmittag zu mir und so saßen wir gemeinsam angespannt vor meinem Laptop und starrten auf den Bildschirm. Ich hatte es noch immer nicht allein übers Herz gebracht, die Zusage per Mail abzuschicken und somit war sie als seelische und moralische Unterstützung gekommen, um mir Mut zu machen und vor allem auch sicherzugehen, dass ich diese Worte auch wirklich schreiben und absenden würde. Sie kannte mich einfach zu gut. Ich hatte tief durchgeatmet und mich dann nach vorne gebeugt, meine Finger glitten beinahe schwerelos über die Buchstaben und ehe ich mich versah, hatte Raisa mir die kleine Maus aus der Hand genommen und auf „Senden" geklickt.
Damit war es dann wohl amtlich gewesen. Ich hatte zugesagt. Ich hatte tatsächlich meine Zusage zu dieser Veranstaltung abgeschickt. Ab diesem Moment hieß es Warten. Warten auf weitere Instruktionen, wie sie es so schön formuliert hatten. Warten auf das Ungewisse.

Der Samstag kam dann schneller als erwartet und so saßen Raisa und ich mit unseren anderen Freundinnen Lenja, Elena und Inna zusammen in unserem Lieblingscafé in der Nähe des Gorki-Parks und warteten auf Anna. Die anderen wussten noch nichts von meinem Glück und von der Einladung zum Platina-Ball, Raisa hatte vorgeschlagen es ihnen bei einer Tasse Tee schonend beizubringen, um dann noch mehr kluge Köpfe auf einem Haufen zu haben. Es wurmte Raisa noch immer absolut nichts über diesen Ball herausgefunden zu haben und somit brauchte sie Unterstützung. Der Ehrgeiz hatte sie da ein wenig mehr gepackt als mich, ehrlich gesagt wollte ich dann mittlerweile doch gar nicht mehr zu viel erfahren und mich eigentlich nur noch überraschen lassen. Wenn Raisa schon nichts hatte ausgraben können – und ich hielt sie nach wie vor für eine der intelligentesten Personen in meinem gesamten Freundeskreis – dann war die Wahrscheinlichkeit mit den anderen auch nur ein Krümelchen Information zu erhaschen auch nicht viel höher.

Ivanka, unsere Kellnerin, brachte uns unseren Tee und Lenja orderte noch ein Stück Kuchen nach, sie war so unfassbar verfressen und sah doch trotzdem wie ein verdammtes Topmodel aus. Ein kleiner neidischer Stich durchfuhr mich, den ich sofort wieder abschüttelte, denn eigentlich hatte es mich selbst auch nicht schlecht mit den Genen getroffen. Aber Lenja toppte einfach alles und jeden. Sie war fast 1,80m groß und hatte endlos langes blondes Haar und unwirklich blaue Augen, die mir manchmal ein bisschen Angst machten. Sie hatte bereits früh angefangen für russische Modelabel zu modeln und verdiente sich damit dumm und dämlich. Allerdings war sie ein so liebenswerter, lustiger Mensch und sie schaffte es trotzdem immer auf dem Boden zu bleiben. Ivanka schüttelte nur den Kopf und zwinkerte uns zu. „Irgendwann wirst du aufgehen wie ein Hefekloß und dann hoffe ich, dass du trotzdem noch zu uns kommst und Kuchen schaufelst!"

Wir alle lachten herzlich und freuten uns, als in dem Augenblick die Tür aufging und Anna endlich ankam. Gehetzt wie immer und mit ihrer Sporttasche über der Schulter ließ sie sich auf den einzigen noch freien Platz fallen und schnaufte genervt. Auch Anna war eine wahre Augenweide, nur musste sie im Gegensatz zu Lenja viel dafür tun und verbrachte viel Freizeit im Fitness-Studio und mit einem Personal Trainer. Sie bediente mit Stolz das Klischee einer jungen Moskauer Dame, die nur ein einziges Ziel vor Augen hatte: Wie schnell angle ich mir einen möglichst reichen und nicht allzu schlecht aussehenden Mann?
Wir hatten sie schon diverse Male aus einer Essstörung heraus gerettet und versucht sie von ihren heiklen Plänen - möglichst schnell möglichst viel abzunehmen – abzubringen. Dass nichts zu essen einfach nicht half, hatte sie dann endlich irgendwann vor einem Jahr verstanden, nun investierte sie ihre Zeit halt massiv in Sporteinheiten und Kalorienzählen. Allerdings aß sie zumindest in unserer Gegenwart relativ normal.

„Entschuldigt die Verspätung", hauchte sie theatralisch und nicht im Ansatz ernstgemeint. Sie, und auch wir, hatte sich damit abgefunden, dass sie niemals pünktlich zu einem Treffen ankommen würde und wir nahmen es einfach hin. Sie hatte auch einen der weitesten Wege zu unserem Café, das hielten wir ihr zugute.
„Ich bin heute Abend wieder im Maxima, kommt jemand mit?", fragte Anna gelangweilt und sah prüfend in unsere Runde. Elena und Inna waren sofort euphorisch und sagten natürlich zu, die beiden waren eigentlich für jede Party und für jeden Club zu haben und somit hätte es uns eher überrascht, wenn sie abgelehnt hätten.

Der Mail-Klingelton meines Telefons lenkte für einen kurzen Moment meine Aufmerksamkeit auf dem Display des Gerätes und ich erstarrte. In der Vorschau auf dem Bildschirm standen drei kleine Worte unter dem Absender, aber die hatten es in sich und sorgten dafür, dass in mir sofort wieder Nervosität ausbrach.
Ich reichte Raisa mein Telefon und starrte vor mich hin. Da keinerlei Reaktion von ihr kam warf ich ihr einen vorsichtigen, zaghaften Blick zu und just in diesem Moment ließ meine beste Freundin ungefragt die Bombe platzen.

Während Anna über eines ihrer gescheiterten Dates berichtete und Elena und Inna, heiß auf Informationen, Klatsch und Tratsch, an ihren Lippen hingen, polterte Raisa plötzlich: „Ratet mal wer eine Einladung zum Platina-Ball bekommen hat?" Die Wirkung dieser Worte verfehlten ihr Ziel nicht im Geringsten. Sofort waren alle Augen bis auf meine auf Raisa gerichtet und klebten an ihr, als ob sie ein seltenes Tier aus dem Zoo war. Oder ein besonders attraktiver Mann, da könnte man streiten.

Ich traute mich nicht auch nur einen Ton von mir zu geben - die Aufmerksamkeit konnte ruhig noch ein bisschen länger bei Raisa verweilen. Sobald sie meinen Namen sagen würde, wäre es mit meiner gefühlten Unsichtbarkeit vorbei. Also einfach noch ein bisschen mehr die Ruhe vor dem Sturm genießen.
Anna war die erste, die ihre Stimme wiedergefunden hatte und antwortete tatsächlich ein kleines bisschen andächtig: „Wow. Nicht schlecht, Raisa, herzlichen Glückwunsch!" Diese schüttelte nur den Kopf und wackelte verheißungsvoll mit den Augenbrauen und nickte mit dem Kopf in meine Richtung. Und damit brach die wahrgewordene, weibliche Hölle über mich ein.

Das Schnattern der anderen fand kein Ende, ich wurde von allen Seiten erdrückt und geknutscht, Ivanka war so aus dem Häuschen, dass sie eine Flasche Sekt ausgab und die Flasche inklusive Gläser feierlich auf unserem Tisch abstellte, als würde sie Wladimir Putin persönlich dienen.
Einzig Anna war still und starrte mich misstrauisch und fast schon ein wenig sauer an. Mit schneidender Stimme fragte sie: „Wieso solltest Du eine Einladung bekommen?"

Stille

„Warum nicht?", fauchte Raisa und ich konnte genau erkennen, dass sie im Angriffsmodus war - manchmal wäre sie beinahe über Leichen gegangen um mich zu verteidigen.
Anna straffte die Schultern und entgegnete mindestens genauso zickig wie Raisa: „Ich wüsste nicht, dass Alika auch nur irgendwas dafür getan hätte auch nur ansatzweise in den engeren Kreis für die Auswahl zu gelangen. Tut mir Leid, aber Durchschnitt bleibt Durchschnitt und hat nichts auf dem Platina-Ball verloren. Frauen wie ich, die sich täglich den Arsch aufreißen und deren einziges Ziel genau DAS ist. WIR haben solch eine Einladung verdient, meinetwegen auch Lenja, keiner kommt gegen ihr Aussehen an. Aber Alika, das kleine, unscheinbare graue Mäuschen, die Studierte ohne einen Funken Erfahrung mit Männern, geschweige denn mit der Moskauer High Society. Ausgerechnet du bekommst eine Einladung. Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen und Mädchen, die tatsächlich ernsthaft daran interessiert sind. Gib sie ab."

Okay, das hatte gesessen.

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