Der Morgen des 6. Januar war eine reine Katastrophe. Mein erster offizieller Arbeitstag. Der Tag, an dem ich das erste Mal seit dem Ball Wladimir Markow, meinen Chef, wiedersehen würde. Mir war schon kurz nach dem Aufstehen hundeelend zumute und ich hatte vor Aufregung und Scham die ganze Zeit schon ein flaues Gefühl im Magen. Mehrmals hatte ich überlegt, die Stelle einfach zu canceln, abzusagen, mich krank zu melden oder mir irgendeine andere dumme, vollkommen offensichtliche Ausrede einfallen zu lassen. Wie tief war ich nur gesunken?
Unentschlossen stand ich vor dem Spiegel und erschrak aufgrund meiner doch sehr deutlich ausgebildeten Augenringe. Ich hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan, hatte mich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt und versucht, die Gedanken in meinem Kopf auszublenden. Natürlich war ich kläglich daran gescheitert, mein Spiegelbild präsentierte mir ja das Resultat meiner Bemühungen.
„Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Alika Zueva!" Ohne Concealer konnte ich nicht auf die Straße gehen, so viel stand fest. Mürrisch schimpfte ich mit mir selbst, verschwand im Badezimmer und hoffte, dass unter dem Sammelsurium an Zaubermitteln, die Maxim mir da gelassen hatte, sich auch der benötigte Concealer befinden würde.
Erleichtert fand ich ihn und trug eine dünne Schicht auf, um meine seltenen Pandaaugenringe vor der Öffentlichkeit verbergen zu können. Mehr oder weniger zufrieden betrachtete ich das Ergebnis und konnte ein Seufzen nicht unterdrücken.
Mein Zustand war weitaus schlimmer als noch vor dem Platina-Ball. Raisa und Maxim hatten noch immer keine Ahnung, dass ich meinen Boss auf dem Ball getroffen und erkannt hatte, geschweige denn, dass auch er mich hatte identifizieren können. Mehrmals hatte ich in den vergangenen Tagen versucht, eben dieses Thema auf den Tisch zu packen, nicht ohne Hintergedanken. Eigentlich hatte ich mir schlaue Ratschläge erhofft, vielleicht hätte einer der beiden ja die einschneidende Idee vorbringen können. Doch der Scham über die ganze Situation hatte gesiegt und mich dazu gebracht, bis zum bitteren Ende meinen Mund zu halten.
Es half alles nichts. Leider musste ich durch diese Misere nun selber durch. Also hieß es Schultern straffen, aufrichten und ab in die Höhle des Löwen.
Mit weichen Knien stand ich vor dem Haupteingang meines neuen Arbeitsplatzes an meinem ersten, offiziellen Arbeitstag und atmete tief durch. Während ich nun so da stand, wie bestellt und nicht abgeholt, hörte ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen. „Alika! Alika, hier, komm wir gehen gemeinsam rein!" Irritiert sah ich mich um und versuchte auszumachen, wer da versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erregen.
Endlich erkannte ich meine Kollegin Karina und konnte ein warmes Lächeln nicht unterdrücken. Euphorisch kam sie auf mich zugelaufen und winkte dabei wie ein kleines Kind mit den Armen. Freudestrahlend sprang sie mich schon beinahe an und nur durch ihren ausgeprägten Gleichgewichtssinn, denn meiner war fast nicht vorhanden, würden wir beide vor einem Sturz bewahrt.
Karina war ein Sonnenschein, in ihrem Herzen offenbar Kind geblieben und steckte fast jeden mit ihrer guten Laune an. Es gab nur wenige in unserem Büro, die sich und ihren Späßen hatten entziehen können. Einen schlechten morgen verwandelte sie mit ihrem Gemüt in einen strahlenden, sonnigen Tag. Ehrlich gesagt war ich froh darüber, dass sie das erste Gesicht aus dem Büro am heutigen Tag war, welches ich zu sehen bekam.
Es machte mir ein kleines bisschen Mut.
„Und? Hast du Deine letzten freien Tage genossen, bevor es nun richtig losgeht?" Sie plapperte einfach munter daher, lauschte meinen verhaltenen antworten und durchquerte gemeinsam mit mir die große Halle, um zu den Fahrstühlen zu gelangen.
Die Zeit mit ihr verging immer rasend schnell und ehe ich es bemerkte stand ich schon vor meinem Schreibtisch, Karina verabschiedete sich mit einem Zwinkern von mir und verschwand an ihrem Arbeitsplatz am anderen Ende des riesigen Raumes.
Dort stand ich nun, mit dem Rücken zum abgegrenzten Büro von Wladimir. Natürlich war ich als seine persönliche Assistentin so nah wie nur möglich positioniert worden. Was hätte es auch gebracht, wenn ich in ein kleines Kabuff gesteckt worden wäre, Effizienz in den Arbeitsabläufen war heutzutage alles.
Noch hatte ich Wladimir nirgendwo entdecken können, als ich meinen Kopf in sein Büro steckte, um nach ihm zu suchen. Erleichtert atmete ich aus. Eigentlich sagte man ja gerne, was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Dieses Sprichwort konnte mir heute jedoch gestohlen bleiben. Je länger ich diese Begegnung hinauszögern können würde, desto besser.
Meine Gebete wurden offenbar erhört, den gesamten Vormittag ließ sich mein Chef nicht blicken, zwischendurch bekam ich nur eine Mail von ihm, dass er einen Außer-Haus-Termin kurzfristig wahrnehmen müsse und wahrscheinlich erst gegen Mittag eintreffen würde. Genug Zeit für mich, um mich seelisch und moralisch vorzubereiten.
Erstaunlich, dass ich mich trotzdem auf meine Arbeit konzentrieren konnte. Zügig ging ich seine Termine durch, sortierte die Memos der letzten Tage und bereitete eine Übersicht vor, was in dieser Woche alles erledigt werden musste. Sprach mit Fotografen und einigen Veranstaltungsunternehmen, buchte Caterer und organisierte bei verschiedenen Boutiquen Kleidung für Fotoshootings und Werbedrehs.
Vertieft in meine Arbeit bekam ich nur am Rande mit, wie jemand an mir vorbeirauschte und in Wladimirs Büro verschwand. Verwirrt wandte ich mich um und zuckte zusammen, als die Tür zugeknallt wurde und ich in dem Raum ein Poltern vernahm.
Augen zu und durch.
Mit gestrafften Schultern erhob ich mich und klopfte zaghaft an der Tür, wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern trat einfach so selbstbewusst wie möglich ein. Vor mir sah ich Wladimir auf dem Boden hocken und ein paar Papiere zusammensammeln, seine Stirn kraus gezogen und vor sich hinschimpfend. Einer der Stühle lag umgestoßen neben ihm am Boden, seine Aktentasche hing irgendwie an der Armlehne und hatte sich anscheinend beim Fall auch um den Fuß gewickelt.
Ein wirklich seltsamer Anblick. Und ich konnte einfach nicht anders.
Ich lachte einfach drauf los. Musste so sehr lachen, dass mir der Bauch weh tat und ich die Tränen kaum zurückhalten konnte. Trotzdem rutschte ich mit einem durchaus irritierten Wladimir zusammen über den Boden und sammelte gemeinsam mit ihm alles zusammen. Als wir das Chaos beseitigt hatten, schaute ich ihn direkt an und fragte: „Kaffee?" Er nickte nur. Ich wollte gerade die Tür öffnen, als er noch einmal nach mir rief und ich mich umdrehte. „Vielleicht sollten wir den Herrschaften des Balles den Hinweis übermitteln, dass die Burger doch recht gut angekommen sind?" Er grinste.
Eine Welle der Erleichterung durchfuhr mich. Nichts war unangenehm, seltsam oder steif zwischen uns.
Vergnügt stimmte ich ihm zu und verschwand, um ihm seinen Kaffee zu bringen. Besser hätte es ja gar nicht laufen können.
Gemeinsam mit Karina und zwei anderen Kolleginnen genossen wir eine verspätete Mittagspause beim Italiener und unterhielten uns über Belanglosigkeiten, bis ich wieder ein Kribbeln im Nacken verspürte.
Ich saß gut sichtbar direkt an der großen Fensterfront des Restaurants und wandte mich irritiert um, da ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Da ich jedoch niemanden auf der Straße erkennen konnte, zuckte ich für mich selbst mit den Schultern und beteiligte mich wieder am Gespräch der Runde.
„Komisch" murmelte Karina mir zu, während sie sich zu mit beugte. Fragend wartete ich auf ihre Ausführung zu der Aussage. „Warum hat dich der Bruder unseres Chefs grade wie eine Erscheinung angestarrt, als er vorbeigegangen ist?"
Mir rutschte mein Magen in die Knie und ich war froh, dass ich saß, da mein Kreislauf plötzlich verrückt spielte.
Konnte das wirklich sein?
War etwa Dimitri Markow, der zweite Geschäftsführer, mein mysteriöser Tanzpartner auf dem Ball gewesen?
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Maskenball - Nur ein Augenblick - ABGESCHLOSSEN-
ChickLitDer Platina-Ball. DAS Ereignis des Jahres der Moskauer High Society. Nur ausgewählte Oligarchen, erfolgreiche Emporkömmlinge und die schönsten der Schönen haben als persönlich eingeladene Gäste Zutritt. Alika Zueva ist weder reich, noch besonders s...