Darf ich?

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Wir hatten uns dick eingepackt. Jogginghose, Pullover, Mantel, Schal und Mütze. Wir standen auf dem Balkon. Der Fernseher war an. Es lief irgendeine Show, welche Musik spielte und später den Countdown zählen würde. "Freust du dich auf 2019?", fragte Manuel mich. "Ich finde, dass die Zahl sich komisch anhört", antwortete ich ihm. Manuel drängte sich bibbernd gegen meinen Körper. "Mir ist kalt." Sollte ich? Ich sollte. Sachte legte ich meinen Arm um seine Taille. Zur Bestätigung schmiegte er sich nur noch mehr an mich. Mein inneres blühte auf. Er ließ es zu. Ich war glücklich. Wir sprachen nicht, sondern schauten zu den Lichtern, welche von den Häusern aus kamen. Ab und zu ging schon ein Knaller los. Oder auch eine Rakete, die wir staunend ansahen. Es gab hässliche, die mit einem roten oder grünen Knall vorbei waren, aber auch welche, die einen runden glitzernden Ball in der Luft zum erscheinen brachten.  Wir gaben den Raketen Noten. Die kleinen waren oft eine fünf oder sechs. Manuel gab einer goldenen die Eins. Keiner anderen. Nur der Goldenen. "Oh, es geht los. Eine Minute noch." Manuel glitt mir aus dem Arm und rannte rein. Er stellte den Fernseher lauter und kam mit vollen Gläsern zurück. "Wir brauchen ja was zum anstoßen", sagte er. Ich nahm ihm eines der Gläser ab. Allerdings fühlte es sich an, als würden meine Finger erfrieren. Und auch Manuel schien es so zu gehen. Er nahm wieder die Position ein, in welcher wir eben auch standen. Wie gerne ich das Glas zur Seite gestellt hätte und ihn voll und ganz in meine Arme genommen hätte.   

Als die Menge im Fernseher anfing zu Zahlen, drehte sich Manuel zu mir um. Doch mein Arm blieb um seinen Körper. Wir standen Bauch an Bauch. Küss mich. Wir waren dichter als im Pool. Küss mich Manuel. Ich wollte weinen. Der Drang nach ihm war furchtbar. Unerträglich. "3...2...1!" Wir zählten laut runter. Sahen uns grinsend an. "Frohes Neues!" Wir grinsten breiter, hoben unsere Gläser und tranken die eiskalte Cola. Fast hätten sich unsere Gläser berührt.

"Das war eine Eins mit Sternchen!" Manuel schaute zu den tausenden Raketen. "Wow", kam es aus mir raus. Lange standen wir da und tranken Cola, bis wir keine mehr hatten. " Immer wieder sahen wir uns strahlend an, bis er seine Hände vor seinen Mund hielt und gegen pustete. "Lass rein gehen, wir erfrieren sonst noch", meinte ich. Nickend sah er zu mir rüber.  Er ging vor mir rein. Ich nahm die leeren Sektgläser und folgte ihm. Er schloss hinter mir die Balkontür. "Ist das eisig. Das merkt man erst, wenn man wieder reinkommt", sagte ich. "Du Meckertante", lachte Manuel. Als er sich die Mütze vom Kopf zog, waren seine Haare zerzaust. "Süß", meinte ich. Er legte den Kopf schief. Ich hatte es belustigt ausgesprochen. Doch meinte es Ernst. Er war süß. Süßer als ein Welpe. Süßer als das süßeste Getränk, welches man schon nicht mehr trinken konnte, weil es zu süß war.
Er wickelte sich den Schal ab. "Du findest mich also süß." Ich schluckte. Ich wippte leicht nach vorne und wieder zurück, zog auch meine Mütze und meinen Schal vom Kopf. "Ja, voll süß." Wieder mein ironischer Unterton. "Wirklich?" Jetzt war er ernst. "Wolltest du mich deshalb küssen?" Ich stoppte meine Finger, welche meinen Mantel aufknöpften. "Ich wollte dich nicht küssen", log ich. "Direkt gesündigt!" Manuel warf seinen Mantel zu Boden. Einen Schritt tat er auf mich zu. "Wolltest du mich küssen?" Er stand mir nah. Seine Hand an meinem Handgelenk. Fest umschlossen, als würde er verhindern wollen, dass ich weglaufe.

Mein Blick konnte ich nicht abwenden. Ich starrte ihn an. Er biss sich auf die Unterlippe. Stieg in ihm das gleiche Verlangen auf wie in mir? Das Verlangen, wie im Pool? Ich kannte ihn nicht romantisch, nicht verlangend. Wenn war es aus Spaß. Aber nie ernst. "Ich, ich denke. Vielleicht." Meine Hände fingen an zu schwitzen. Manuel fing an, schelmisch zu grinsen. "Wolltest du das?" Er legte seine Hand in meinen Nacken. Dominierend zog er mich zu sich und kam mir näher. Ich sah, wie seine Augen sich schlossen, je näher er mir kam. Dann schloss auch ich meine.

Die Raketen, die vor dem Fenster explodierten und buntes Licht in die Wohnung leuchten ließen. Die Show im Fernsehen, wo Musik spielte, welche das neue Jahr willkommenhießen. Manuels Hand an meinem Handgelenk. Die zweite an meinem Nacken. Seine dünnen und doch so vollen Lippen, die sich auf meine bewegten. Sein keuchen, mein keuchen, was vor Erregung ausgelöst wurde.

Langsam öffnete ich meine Augen. Aber nur einen Spalt weit. Seine Stirn lag an meine. Wir waren außer Atem. "Wolltest du das?", fragte er mich. Ich konnte nicht antworten. Manuel verstand und löste sich von mir. Sofort wurde mir wieder kalt.
Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hätte. Wäre unsere Cola irgendein Rum gewesen, hätte ich unseren Kuss auf den Alkohol geschoben.
Manuel hob seinen Mantel auf und hing ihn über einen der Stühle. Dann stellte er seinen Fuß hoch und band sich den Schuh auf. Ich war gefangen in meinem Körper und konnte mich nicht regen.

"Hör auf mich mit deinen Augen auszuziehen und mach es endlich mit deinen Hände." Manuel sprach leise. Fast kaum hörbar. Es machte mich verrückt. Er hatte vermutlich meinen gierigen Blick bemerkt. Ich hatte ihn angestarrt, als er sich die Schuhe auszog. Jetzt stand er wieder vor mir und lächelte. "Du bist schüchtern. Das kenne ich gar nicht mehr von dir." "Manuel, warum?", kam es dann, ohne das ich die Worte selbst kontrollierte, aus mir raus. "Denkst du, ich kapiere nicht, was du mir mit deinen Blicken sagen willst?" Er runzelte die Stirn. "Denkst du, ich bin so dumm und verstehe nicht?" Jetzt klang er wütend. "Patrick...", er legte seine Hände an meine Wangen "Darf ich?". Ich nickte leicht. Dann küsste er mich wieder. Ich legte meine Hände an seine Hüften. Wäre ich gläubig, hätte ich Gott für dieses Glück bedankt. Doch vermutlich würde Gott nicht glücklich sein, dass ich mich dafür bedankte. Adam und Eva. Kein Adam und Adam oder Eva und Eva. Doch mir war es egal. Manuel war es egal. Wir waren Adam und Adam.

Amnesie / Kürbistumor FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt