Nolan's Sicht

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Langsam wie ein Raubtier näherte ich mich ihr.
Ihr, Miriam, dem Mädchen mit den scheinbar unbändigen roten Locken und den blauen Augen. Ihr, meinem Schützling.
Aber wie sollte ich jemanden beschützen, der sich die ganze Zeit von mir fernhielt?

Meine Zähne knirschten, als ich mein Kiefer anspannte. Zu behaupten, dass mir das Ganze unter die Haut ging, war wahrscheinlich noch untertrieben. Es war ihre Schuld, dass ich die ganze Nacht lang wach geblieben war. Mit ihrem Lächeln im Hinterkopf hatte ich Löcher in die Decke gestarrt, hatte über meinen Ausbruch nachgedacht. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich mich ein wenig zurückgehalten hatte, aber ich konnte nichts dafür. Meine Gefühle hatten sich wie eine Welle an einer Felswand gebrochen, waren beinahe explosiv aus mir herausgekommen, ohne dass ich es noch zurückhalten oder kontrollieren hätte können. Und nun war eh ohnehin zu spät.

Ich blieb einen halben Meter vor ihr stehen und blickte auf sie hinab. Jetzt, wo sie direkt vor mir stand kam ich mir dumm vor, dass ich gestern am Abend dachte, ich hätte sie genau vor Augen, denn die Tatsache, dass sie vor mir vor, zeigte, dass ich falsch lag. Wie hätte ich ein bloßes Bild meiner Erinnerung mit dem Original vergleichen können?

Sie erwiderte meinen Blick beinahe furchtlos und es schien, als würden ihre blauen Augen Funken sprühen. Ihre Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden und es juckte mich in den Fingerspitzen, die gelösten Strähnen wieder zurückzustreichen. Heute trug sie ein knielanges, schwarzes Kleid, dass an der Taille mit einem Gürtel gebunden war. In Kombination mit ihren Boots sah machte sie ein sehr gutes Bild... Ich fand es überaus schade, dass ihr Mantel den größten Teil ihres Aussehens verdeckte...

"Nun? Willst du mir vielleicht sagen, warum du mir aus dem Weg gehst?"
Ihr Blick schweifte um mich herum, als suchte sie nach irgendetwas und es machte mich wahnsinnig, dass ihre Lippen noch immer fest verschlossen blieben. Wie stur konnte dieser Mensch eigentlich sein?
"Miriam...", fing ich wieder an und sie blinzelte, als wäre sie gedanklich abgedriftet.

Ihre Augen richteten sich wieder auf mich und ich konnte sehen, wie sie schluckte. Eine Reaktion, aber noch immer zu wenig für mich.
Ehe ich mich versah, hatte ich ihre Schultern gepackt und sie wirkte überrascht, ebenso wie ich. Warum hatte ich...? Der Griff um ihre Schultern wurde fester.

"Miriam, rede mit mir.", versuchte ich es nun mit samtiger Stimme. Wenn ich sie gestern verschreckt hätte, dann würde ich es nun auf die sanfte Tour versuchen. Miriam hatte mir gestern beinahe den Verstand geraubt, aber so etwas würde ich ihr nicht nochmal durchgehen lassen.
"Miriam." Sanft strich ich mit meinen Daumen über ihre Schultern, gerade so, dass sie die Bewegungen unter dem Stoff ihres Mantels spüren dürfte. Ihr Blick verklärte sich leicht und sie starrte mich nachdenklich an, beinahe naiv und unschuldig. Doch ich konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen hinter ihrem Kopf drehten. Sie überlegte, etwas zu sagen und gleich würde sie die Bombe platzen lassen.

"Wer bist du?"
Okay, ich hatte vieles erwartet, aber nicht das.
Verwirrt runzelte ich meine Stirn, konzentrierte mich auf die Bewegungen meiner Daumen. "Was meinst du? Ich bin Nolan, wenn du das vergessen hast."
Langsam schüttelte sie den Kopf. "Du weißt, was ich meine. Was hast du mit mir gemacht? Ich... ich kann mich an den LKW erinnern."

Meine Daumen stockten kurz, ehe sie ihre Streicheleinheiten wieder fortsetzten.
"Welchen LKW meinst du?", fragte ich etwas atemlos und mein Herz schlug schneller. Ich fühlte mich, als wäre ich in eine Ecke gedrängt worden, wie ein verschrecktes Tier, keine Sicht auf Flucht. Ich fühlte mich ertappt, seltsam nackt und unvorbereitet.
Ich hatte ein Recht, mich so zu fühlen, auch wenn ich es nicht wollte. Das war unmöglich. Es war schlicht und einfach nicht möglich. Ich hatte ihre Erinnerungen gelöscht. Sie konnte sich nicht daran erinnern, das durfte sie nicht.

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