Kapitel 29

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Die kalte Nacht war windstill und zum ersten Mal war ich dankbar für die eisigen Temperaturen, da sich meine Panik schnell legte und meine aufgewirbelten Gefühle zur Ruhe kamen. Ich atmete tief ein und füllte meine Lungen mit Eis, bis sie schmerzten. Trotz allem fühlte sich diese Art von Schmerz gut an. Es war betäubend und eine friedliche Ruhe breitete sich in mir aus, als ich meinen Kopf in den Nacken legte und hinauf zu den Sternen blickte.

Das Himmelszelt war makellos schwarz, ohne eine einzige Wolke, von denen am Vormittag genug zu sehen waren. Die Sterne wirkten beinahe unecht schön. Als hätte jemand einen Kübel voller Glitter über einem schwarzen Hintergrund ausgeleert.
Es sah wirklich wunderschön aus, beinahe märchenhaft, als ich mit Nolan an meiner Seite über den verlassenen Rasen spazierte, der mit seinem dezenten Frost wie aus seiner anderen Welt wirkte.

"Ganz schön kalt hier draußen."
Mein Kopf drehte sich zu Nolan und ich musterte ihn. Die Art, wie er erschauderte ließ mich grinsen. Es sah einfach total lustig aus, wie seine Gesichtszüge starr wurden.
"Es war deine Idee, komm damit klar", antwortete ich und bewegte während wir über den Rasen schlenderten meine Zehen in meinen Boots, damit sie nicht taub wurden. Ich würde ihm nie sagen, dass er wegen mir fror, denn entweder würde er von selbst draufkommen oder er würde eben nie dahinterkommen. Außerdem war es lustig mit anzusehen, wie er sich die Hände rieb und sie dann zu einer Hölle formte. Er führte das Loch zwischen seinen Daumen und hauchte mehrmals hinein, um seine Handflächen aufzuwärmen.

"Du scheinst die Information, dass es Engel gibt und dass ich einer bin ganz gut zu verkraften." Nolans wohlklingende Stimme schnitt sich in die geheimnisvolle Stille der Nacht und gab ihr eine andere Note, die nicht unbedingt störend war. Vielmehr versetzte mir der Klang seiner Stimme eine wohltuende Gänsehaut und ich kuschelte mich lächelnd tiefer in meinen Schal.

"Ich weiß auch nicht, warum ich so gelassen bleibe", gab ich zu und hörte einige Schritte zu, wie die gefrorenen Grashalme unter meinen Schuhen brachen. "Vielleicht liegt es daran, dass ich s Stück für Stück selbst herausgefunden habe, obwohl ich damals noch dachte, dass ich verrückt bin. Ich meine, wer würde mir glauben, dass Engel existieren?" Ich lachte leise und schüttelte gedankenverloren meinen Kopf.
"Man würde denken, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe."

Nolan schwieg und ich merkte, wie er über seine nächsten Wort nachdachte.
"Dann kommt dir das also nicht mehr seltsam vor?", fragte er schließlich und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er auch in den Sternenhimmel blickte. Ob er an seine Freunde dachte?
Ich wiegte von meinen Kopf von einer Seite auf die andere. "Nicht wirklich. Wahrscheinlich bin ich selbst seltsam, dass ich so normal reagiere."
"Du bist nicht seltsam." Er klang so ernst, dass meine eigene Belustigung verrauchte, aber als ich zu ihm blickte, hatte er noch immer den dunklen Himmel fokussiert.

"Eigentlich", fing ich nach einer Weile wieder zu sprechen an. "Finde ich das sogar ausgesprochen cool."
Ein überraschtes Lachen kam von Nolan und ich musste ebenfalls lächeln. Was sollte ich sagen? Mittlerweile hatte ich mich an den Klang gewöhnt und mochte ihn wirklich. Es erinnerte mich an eine Einladung in eine dunkle, mysteriöse Welt, die ich allzu gerne mal erkunden würde.
"Cool?" Er blickte mich ungläubig an. "Du erfährst von der Existenz von Engeln und alles, was du dazu sagst, ist 'cool'?"

Ich grinste ihn offen an und streckte meine Arme nach oben, bis sie erzitterten, ehe ich sie wieder in meinen Manteltaschen versenkte.
"Was soll ich sagen? Ich bin seltsam."
"Bist du nicht."
"Doch", erwiderte ich lachend, als er schnaubend den Kopf schüttelte. "Ich bin die seltsamste Person auf der ganzen Welt."
"Dann habe ich ja Glück, dass ich auf die seltsamste Person auf der Welt aufpassen darf."

Erst wollte ich etwas Scherzhaftes erwidern, doch das Funkeln in seinen Augen ließ mich meinen Mund wieder schließen. Ich schaute Nolan unverwandt an und dachte zurück an den Tag, an dem ich ihn kennengelernt hatte. Damals hatte ich ihn nicht ausstehen können, weil er mir meine Präsentation vermasselt und sich anfangs nicht einmal entschuldigt hatte. Doch wie es das Schicksal wollte hatte ich eine andere Seite an ihm kennengelernt, die nur ich kannte. Ich hatte begonnen, seine Situation zu verstehen und legte meine Unruhe ab, die ich immer empfunden hatte, wenn ich an ihn dachte.
Mittlerweile war Nolan eine konstante Stütze in meinem Alltag geworden und es fühlte sich nicht richtig an, ihn einen Tag nicht zu sehen, weder in den Kursen, noch am Wochenende.

"Danke, dass du mich gerettet hast", sagte ich nach einvernehmlichem Schweigen.
Nolan gab ein Geräusch von sich, das ich als Lachen deutete. "Wann genau? Vor den Leuten im Shopping Center? Oder vor dem Bus? Oder vor einem der anderen hundert Male?"
Im nächsten Moment schlug ich ihm mit der Faust leicht gegen die Schulter und spürte, wie das Grinsen langsam wieder auf meine Lippen zurückkehrte. "So oft hast du mich nie und nimmer gerettet!"
"Du wirst nicht glauben, wie tollpatschig du bist und es dir gar nicht mehr auffällt, wenn ich dich rette."
"Danke, dass du mich vor dem Typen auf unserer Party gerettet hast", erklärte ich ausführlicher.

Nolan nickte. "Kein Ding, das ist ja immerhin meine Aufgabe."
"Trotzdem bedanke ich mich bei dir, weil du mir echt geholfen hast."
Wieder breitete sich Stille zwischen uns aus und wir blickte beide auf den gefrorenen Boden. Normalerweise war es mir unangenehm, wenn mir der Gesprächsstoff ausging und dann die Konversation abbrach, aber mit Nolan war es etwas anderes. Ich genoss es, mit ihm zu reden und zu lachen, aber ich genoss auch das gemeinsame Schweigen, dem wir uns hingaben.

"Miriam."
Finger legten sich sanft um mein Handgelenk und brachten mich dazu, stehenzubleiben und mich zu Nolan umzudrehen. Ich erwiderte seinen dunklen Blick und legte meinen Kopf leicht schräg. Ein paar Haarsträhnen fielen mir ins Gesicht, aber ich strich sie nicht zurück. Dafür war ich in diesem Moment einfach zu verzaubert.
Obwohl Nolans Haare und der Himmel exakt dieselbe Farbe hatten, stach Nolan ganz deutlich hervor. Ich hatte keine Ahnung, wie er das machte, aber ich tippte darauf, dass seine Kräfte im Spiel waren. Anders konnte ich mir das leichte Leuchten, dass seine Silhouette umgab, nicht erklären.

Ich schnappte nach Luft, als er eine Hand auf meine Schulter legte. So warm, wie sich seine Hand auf mir anfühlte, vergas ich für einen Moment, dass ich einen dicken Wintermantel trug.
"Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken", murmelte er leise, doch ich hörte ihn klar und deutlich.
Blinzelnd rang ich um Fassung, doch ich spürte, wie ich innerlich gerade dabei war, durchzudrehen. Ich konnte es nicht glauben, dass er noch immer jedes einzelne Mal dieselben Reaktionen in mir hervorrief und ich wie jedes Mal machtlos dagegen war.

"Und was, wenn ich mich trotzdem bei dir bedanke?"
Meine Haltung versteifte sich, als sich Nolan langsam vorbeugte. Sein intensiver Blick lag auf mir und hielt meine Welt für den Moment an. Für einen kurzen, verrückten Moment dachte ich, dass er mich küssen würde. Und für den Bruchteil einer Sekunde hielt ich das für eine wahnsinnig gute Idee. Ich glaubte, dass alles gut werden würde, wenn er seine Lippen auf meine drücken würde, wenn er seine Hände auf meine Taille legte und seine Zunge in meinen Mund eindrang und mir sehnsuchtsvolle Laute entlockte.

Doch die Seifenblase platzte wieder, als er sich zu meinem Ohr beugte und sein warmer Atem über meine Ohren streifte.
"Dann werde ich das mit dir machen?"
Im nächsten Moment packte er mich an der Hüfte, wirbelte mich herum und warf mich in die Höhe, als würde ich nichts wiegen. Ich stieß ein Kreischen aus, das sich schnell in ein Lachen umwandelte. "Nolan, lass mich runter!"

Mit einem Schmunzeln setzte er mich wieder auf dem festen Boden ab und trat einen Schritt zurück.
Er musterte mich, während ich mich darauf konzentrierte, dass sich meine Welt zu drehen aufhörte. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob sich meine Welt wegen den schnellen Bewegungen drehte oder vielmehr wegen meinen Gedanken von vorhin. Was hatte ich mir nur dabei gedacht!?
Meine ganze Schulzeit lang hatte ich darauf geachtet,durch keine Gefühle meine schulische Karriere zu gefährden und war bis dahin auch ganz gut durchgekommen. Und jetzt tauchte mein Schutzengel auf und ich fang an, Dinge zu fühlen, die ich nicht fühlen sollte und mir Sachen auszumalen, an die ich lieber nicht denken sollte.

"Sollen wir wieder zurückgehen?" Nolan warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich fühlte mich momentan nicht in der Lage, den anderen gegenüberzutreten.
"Nein", sagte ich etwas verspätet. "Bring mich einfach nach Hause."
Ich spürte seine Fragen in der Luft liegen, doch er war taktvoll genug, um zu schweigen und einfach zu nicken.
Nebeneinander gingen wir zurück und ich gab mir größte Mühe, mir mein gedankliches Chaos nicht anmerken zu lassen.

An den Treppen zum Gebäude meines Appartements drehte ich mich um und blickte ihn an.
"Danke für den Abend", sagte ich und zwang mich zu einem künstlichen Lächeln, das sich viel zu aufgesetzt anfühlte.
Ich wusste nicht, ob ich froh oder enttäuscht sein sollte, als Nolan mich in eine Umarmung zog, mir über den Rücken strich und sein Kinn für einen Moment auf meinem Kopf ruhen ließ, ehe er sich zurückzog.
"Dann viel Spaß noch."
"Dir auch", murmelte ich matt, drehte mich um und stieg die Treppen hoch.

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