Kapitel 41

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Das weihnachtliche Wochenende, das größtenteils aus Kekse backen, Weihnachtsgeschenke online zu suchen, einen Weihnachtsmarathon auf der Bank zu veranstalten und so viel zu essen, wie wir konnten. Meine Freundinnen und ich hatten das ganze Wochenende keinen Fuß nach draußen gesetzt und es war wunderbar gewesen, einfach nur im Appartement zu bleiben.
Dafür fühlte sich der Montag an wie ein Schlag ins Gesicht.

Fröstelnd vergrub ich mein Gesicht in meinen Schal, während ich versuchte, auf meinen Weg zur Aula nicht zu erfrieren und als Zierstatue am Rasen zu werden. Es hatte Minusgrade, doch ich fühlte es nicht mal mehr richtig, denn meine Finger- und Zehenspitzen waren bereits taub. Wenn es ein Gefühl gab, das ich wirklich nicht ausstehen konnte, dann war es ja noch der Moment, wenn ich meine eigenen Körperteile nicht mehr spüren konnte. Warum tat mir Mutter Natur so etwas an? Mein Körper gehörte mir und nicht ihr!

Ich konnte gar keinen Vergleich dafür finden, wie glücklich ich war, als ich die vereisten Stufen zur Aula hinaufstieg und das Gebäude betrat. Die Wärme empfing mich mit offenen Armen und es fühlte sich an, als würde eine Wand zwischen Wärme und Kälte sein, die ich gerade passiert hatte.

Einen Moment blieb ich am Rand stehen und wärmte mich auf, wartete mit weiteren hunderten von Studenten, dass die Glocke den Unterrichtsbeginn ankündete. 
Ich suchte die Menge nach bekannten Gesichtern ab, blieb jedoch erfolgslos. Meine Mitbewohnerinnen waren beide schon vorausgegangen, doch ich hatte erheblich mehr Zeit gebraucht, um mich selbst zu motivieren, in die Kälte zu gehen.
Nun stand ich alleine da und fing allmählich an zu bereuen, dass ich nicht mit meinen Freundinnen gegangen war. 
Mit einem Seufzen ließ ich meinen Blick weiter durch die Aula gleiten, als sich Nolan auf einmal zwischen den Studenten durchdrängte und sich auf mich zubewegte. 

Sofort kam ein Lächeln auf meine Lippen, das immer dann zu kommen schien, wenn er da war oder ich an ihn dachte. Doch diesmal konnte ich spüren, dass etwas anders war und mein Lächeln verblasste wieder, als ich den ernsten Ausdruck in seinem Gesicht sah.
Seine Stirn war gerunzelt und er hatte seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

Trotzdem dachte ich, dass das nur an der Kälte und an der Tatsache, dass es Montag war, lag. Nein, ich dachte es nicht, ich hatte es gehofft. 
"Hey", sagte ich mit einem unsicheren Lächeln, als er vor mir stehen geblieben war.
"Du wirst dich von Xavier fernhalten."
Ich blinzelte überfordert und sah zu ihm auf. "Dir auch einen guten Morgen, Nolan."
Er holte tief Luft und schaute sich um, las könnte er es nicht ertragen, mich länger als ein paar Sekunden an einem Stück anzusehen. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, doch  es brachte mein Herz dazu, mir auf ziemlich unangenehme Weise wehzutun.

"Hast du mich verstanden, Miriam?" Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich leicht. Die Iris seiner Augen schimmerte wie das harte Grau von Bleistiftmienen entgegen und die Intensivität, die er gemischt mit einer strikten Distanziertheit ausstrahlte, ließ mich nervös werden. Nicht die gute Nervosität, die die Schmetterlinge in meinem Bauch zum Leben erweckte, sondern vielmehr die Nervosität, die sie abtötete und durch ein taubes Gefühl ersetzte. Das war schlimmer als die Kälte, die ich draußen gespürt hatte, denn so tief, wie das, dass ich gerade fühlte, konnte die winterliche Kälte nie eindringen.

"Miriam."
Seine leise, eindringliche Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich blinzelte heftig, bis sich der graue Schleier, der sich über mein Sichtfeld gelegt hatte, verflüchtigt hatte.
"Ja?", stammelte ich ein wenig überfordert und versuchte mich an das zu erinnern, was er gerade gesagt hatte.
"Halte dich von Xavier fern. Am besten für immer."
"Was?" Ich neigte den Kopf zur Seite, jetzt vollends verwirrt. "Warum sollte ich- was? Woher weißt du überhaupt von Xavier?" 
Misstrauisch kniff ich meine Augen zusammen und stemmte die Händen in die Hüfte. Hatte er mir schon wieder hinterherspioniert? Ich hatte es zwar nicht darauf abgesehen, dass er nichts von Xavier erfuhr, aber ich war mir sicher, dass sich die beiden nie über den Weg gelaufen waren.

Er schüttelte den Kopf und wirkte beinahe genervt.
"Das ist nicht wichtig", antwortete er. "Du wirst Xavier nie wieder sehen, zu deinem eigenen Schutz."
"Was?", stieß ich aus und bemerkte, dass sich ein paar Köpfe in unsere Richtung drehten. Als ich weitersprach, senkte ich meine Stimme. "Du kannst mir nicht sagen, mit wem ich Kontakt haben darf und mit wem nicht, so läuft das nicht. Es ist mein Leben, Nolan. Ich weiß, dass du nur deinen Job tust." 
Ich stoppte kurz, um mir selbst nochmal zu sagen, dass er nur bei mir war, weil es seine Aufgabe war. Es schmerzte zwar, aber ich musste realisieren, dass er von Beginn an nicht freiwillig war, sondern weil er das als Schutzengel musste.

"Miriam, du verstehst das nicht-", fing er wieder an, doch diesmal unterbrach ich ihn. Es wühlte mich einfach zu sehr auf, dass er mir all diese zweideutigen Signale gab, von denen er wahrscheinlich nicht mal wusste, dass sie zweideutig waren.
"Nein, weißt du was? Du verstehst mich nicht. Du kennst Xavier nicht mal!"
"Du doch auch nicht!", schoss er zurück und funkelte mich an. "Er ist nicht der, der er zu sein vorgibt! Er tut verdammt noch mal nur so! Er ist böse!"
"Böse?" Ich stieß ein Lachen aus, obwohl mir eher zum Weinen zumute war, weil er mich so sauer machte. Wie konnte er nach so einem schönen Wochenende kommen und plötzlich alles ruinieren?

"Hör doch auf, so kindisch zu sein, Nolan. Xavier ist nicht böse. Er ist einfach ein Junge, den ich vor kurzem kennengelernt habe, nicht mehr und nicht weniger."
"Miriam, er ist böse", beharrte er und blickte mich eindringlich an, als würde er mich mit seinem bloßen Blick zu überzeugen versuchen, dass seine Aussage wahr war.
"Warum ist er böse? Warum sagst du sowas?"

Nolan blinzelte überfordert, während ich auf eine Erklärung wartete. Dass er etwas sagte und mich somit überzeugte, dass er das nicht nur tat, um den Kontakt zu ruinieren. Dass er nicht versuchte, mein Leben zu beherrschen.
Doch er sagte nichts, sondern schien nur nach den richtigen Worten zu suchen. Und er fand nichts. 
Natürlich fand er nichts, dämmerte es mir und meine Wut schlug in bodenlose Trauer um. Er brauchte keinen Grund, um das zu tun, was er tat. Er war immerhin ein Engel, er konnte sich alles erlauben und brauchte nicht auf die Gefühle von dummen Menschen Acht geben. 
Dumme, dumme Menschen...

"Okay, weißt du was?", sagte ich schließlich, plötzlich erschöpft und ausgelaugt, als hätte ich die folgende Woche bereits hinter mir. "Ich brauche deine blöde Erklärung nicht, warum Xavier böse ist. Ich habe es verstanden."
Überraschung blitzte in Xaviers Augen und er legte den Kopf schief. "Wirklich?", hake er vorsichtig nach, scheinbar verwundert, dass ich mich so schnell beruhigt hatte. Wahrscheinlich hatte Nolan recht. Ich verstand es einfach nicht, ich war zu blöd dafür. Er war ein Engel und hatte eine Aufgabe zu erledigen und ich dummes Mädchen machte ihm seine Aufgabe nur schwerer. Doch wer hatte mich gefragt, ob ich von ihm beschützt werden wollte?

"Ja", sagte ich und zwang ein Lächeln auf meine Lippen. "Ich habe verstanden, dass ich scheinbar gar nichts verstehe, wenn es um diese Engelssache geht, aber das ist wahrscheinlich auch gut so."
Ich wandte meinen Blick ab und sah gedankenverloren an ihm vorbei.
"Wir leben in zwei verschiedenen Welten, da ist es ganz klar, dass wir den anderen nicht verstehen. Es tut mir leid, dass ich mich aufgeregt habe", murmelte ich und ich spürte, wie meine Augen verdächtig brannten. Hastig blinzelte ich. Ich würde jetzt nicht zu weinen beginnen, ganz sicher nicht.

"Miriam...", fing Nolan an, doch ich hob meine Hand und unterbrach ihn ein weiteres mal denn ich war noch nicht fertig.
Ich richtete meinen Blick wieder auf ihn und reckte mein Kinn vor.
"Doch das gibt dir noch lange nicht das Recht, über mein Leben zu bestimmen. Als mein Schutzengel solltest du mich und mein Leben zu beschützten. Und nicht, um es zu zerstören."

Bevor er noch etwas sagen konnte und mich dazu brachte, meine Worte zu bereuen, schob ich mich an ihm vorbei und bewegte mich auf die Treppen zu. Hinter mir konnte ich Nolan hören, aber da ich kleiner als er war, schaffte ich es leichter, mich zwischen die Studentengruppen zu schieben und schob bald hatte er mich aus den Augen verloren.
Ich war mir nur nicht sicher, ob ich mich darüber freuen sollte, oder ob ich weinen sollte.

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