Träge schaute ich dem Schneetreiben zu. Die weißen „Äumel", wie ich sie so schön nannte, könnten als Hochhäuser des kleinen Vororts durchgehen. So weit das Auge reichte sah man weiß, weiß, weiß. Den ein oder anderen konnte das vielleicht nerven.
„Mich aber nicht! Niemand hält mich auf."
Kinoreif zog ich bei diesem Satz den Reisverschluss meiner Jacke bis unters Kinn zu und machte mich damit für eine Winterwanderung ala Neil Armstrong bereit. Nein, Polen konnte man natürlich nicht mit dem Mond vergleichen, aber im Gegensatz zu meiner Zweitheimat war das für mich eine eigentlich unerreichbare Gegend. Natürlich war ich ihm dankbar dafür, dass er mich hierher mitnahm. Zumindest jetzt. Erst hatte ich mich strickt geweigert. War mir aber eigentlich auch nicht zu verdenken. Irgendwann würden wir auch Deutschland auf dieser Reise begegnen und das konfrontierte mich unmittelbar mit dem Tod meiner Mutter. Mein Vater hatte sich damals geschworen nie wieder in das „Land des Unheils und Verderbens" zurückzuckehren.
Übertrieben – wenn man mich fragt. Eine Krebsdiagnose konnte man schließlich überall bekommen.
Sofort bahnte sich eine kleine Träne den Weg über mein Gesicht und trotz meiner eigentlich so starken Selbstbeherrschung konnte ich sie diesmal leider nicht verhindern. Bevor mein Freund noch irgendetwas davon mitbekam, versuchte ich es mit einer unbemerkten Flucht aus dem Hotelzimmer.
„Tschüss!" rief ich, um mich innerlich sofort selbst zu ohrfeigen. Sich unauffällig aus dem Staub machen und sich dabei lauthals zu verabschieden passte definitiv nicht zusammen.
Ich schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. In den wenigen Millisekunden die vergangen waren hörte ich Schritte auf mich zukommen. Aus einem kleinen Spalt in meinen Augen erhaschte ich ein Blick auf sein fast schwarzes Haar. In letzter Zeit fühlte ich mich recht unwohl in seiner Nähe.
Früher war es anders. Damals war ich die Außenseiterin. Neu an eine Schule gekommen, dazu in einem anderen Land, von welchem ich die Sprache noch nicht einmal beherrschte. Klar, dass da Chaos vorprogrammiert war. Und bei mir dann natürlich erst recht. Er war der einzige, der mich damals ohne Vorurteile aufgenommen hatte und ob ich die Beziehung damals wollte, weiß ich bis heute selber noch nicht so genau. Sie war einfach so gekommen. Mein Vater meinte damals zu mir, er sei ein Glücksgriff, ein 6er im Lotto. Ab dem Moment schaltete mein Verstand dann sowieso schon ab. Mathe und ich waren nie Freunde geworden. Das einzige, was ich aus 12 Jahren Schule mitgenommen hatte, war der oberwitzige Spruch eines Mitschülers, der ungeschickt von den Blicken ablenken wollte, als er sich gerade in der Nase bohrte. Dieses Schwein. „Mathematiker stehen nachts auf und müssen 'pi''pi'." Nicht schlecht, das sollte man ihm auf jeden Fall hoch anrechnen, obwohl er danach durchs Mathe-Abi gefallen war. Anscheinend fand das unser Lehrer wohl mal so gar nicht witzig.
Ungeniert wurde ich durch sanfte Lippen aus meinen Tagträumen geweckt. Ein Abschiedskuss, was war schon Schlimmes dabei? Aber eigentlich wollte ich nicht, dass er mich jetzt so sah. Eigentlich sollte einem vor dem eigenen Freund doch nichts peinlich sein, aber diese Ebene des Vertrauens hatten wir oder wohl eher ich nie zueinander aufgebaut.
Sanft blickte ich in seine Augen, die wie das einzige Tor zu seinem Herzen wirkten. Ein Mann der Gefühle war er leider nie gewesen. Obwohl ich mir das manchmal, oder sogar ziemlich oft so sehr gewünscht hatte. Zum Glück waren ihm meine Träne nicht aufgefallen und so startete ich einen neuen Versuch meiner kleinen Flucht, die man jetzt wohl noch schwer so nennen konnte.
Als ich beschwingt durch die Musik meines Handys fröhlich pfeifend durch die Hotelflure marschierte, erntete ich zwar genervte Blicke, aber das interessierte mich wenig. Ich musste mein Ziel erreichen. Taktisch klug wäre es da natürlich so ein paar Wörter der dort gesprochenen Sprache zu können.
„So Google Übersetzer, dann zeig mir doch mal was du draufhast und wehe ich gerate durch dich in irgendwelche peinlichen Situationen! Das kann ich auch schon alleine ganz gut." schimpfte ich mein Handy mahnend.
Das Internet war zwar schlecht, aber für ein paar Phrasen sollte es wohl noch reichen. Schlagartig fuhr ich zusammen als ich nach draußen in die Eiszeit trat. Das es so kalt war, damit hätte wohl niemand rechnen können. Wäre ich doch nur lieber in meinem warmen Hotelzimmer geblieben. Aber mit einer Krippe war schließlich nicht zu spaßen und da ja der Slogen „Selbst-ist-die-Frau" gilt, wollte ich ihm alle Ehre machen und meine Arzneimittel selber besorgen. Sollten doch alle Männer vergammeln. Mein Vater bei seinem tollen Job im Ausland, der uns das alles hier eingebrockt hatte und mein faulenzer Freund in seinem Hotelzimmer.„Das Geheimnis eines erfüllten Lebens, Männer müssen draußen bleiben." Murrte ich in einem erneuten Anfall von Griesgrämigkeit.
Nach tausenden an Schneemetern, verqueren Google Maps Karten und unlesbaren Schildern, war ich so bei mir selbst und meinen Gedanken, dass ich gar nicht merkte, in diesem verlassenen Dörfchen mal auf jemanden gestoßen zu sein. Und das meinte ich wortwörtlich so. Ich stieß auf einmal gegen irgendwas Festes, verlor dabei mein Handy und warf dem Mann – so viel erkannte ich noch – einen sauren Blick zu, obwohl er dafür nichts konnte. Aber das war mir zu diesem Zeitpunkt egal.
Er war ein Mann, das war das einzige was zählte. Und die bekamen heute eine volle Ladung an Emilias-Sonderportion-Hass ab.
Hoffentlich hatte er nicht gehört was ich gesagt habe, das wäre dann wohl schon ein bisschen peinlich, fuhr es mir durch den Kopf, um kurz darauf meiner eigenen Dummheit nochmal einen gesonderten Applaus zu spenden.
Wenn man hier jemanden in diesem Schneegestöber traf, dann musste der sich wohl extrem gut auskennen. Ein Einheimischer also. Ich hatte nichts zu befürchten und dieses Besondere (aber hübsche!) Exemplar Mann schien dazu auch noch sehr in Eile gewesen zu sein.
„Man muss nehmen was man kriegen kann!" sagte ich zu mir selber und hatte wohl keine andere Wahl, als ihn als Versuchsobjekt für meine Googleerrungenschaften zu benutzen.
Anonsten traf ich erst wieder am nächsten Tag auf eine Menschenseele. Ich hoffte also, dass der Übersetzer mehr als der Kartenleser taugte.
„Czy wiesz, gdzie jest najbliższa apteka?" brachte ich gebrochen heraus.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob der Fremde schon davor geschmunzelt hatte, aber jetzt brach er gänzlich in Lachen aus. Mein Todesblick brachte ihn dann aber schnell wieder zur Besinnung,
Na wenigstens verstehen die ja anscheinend Pantomime. Wie eine verrückte vor ihm hertanzend, machte ich nach, wie ich sterbenskrank in ein Taschentuch rotze und als er das dann immer noch nicht verstand, wurde mir alles zu blöd.
„Peinlicher kann's eh nicht mehr werden." Sagte ich eher als Mantra zu mir selber.
Und so schmiss ich mich kurzer Hand auf den Boden und stellte mich Tod. Mein Schauspieltalent war anscheinend wohl gar nicht von schlechten Eltern. Denn als ich meine Augen wieder öffnete, um zu schauen, ob er jetzt endlich verstanden hatte, was ich meinte, lehnte er schon über mir und fragte hektisch auf DEUTSCH, was denn los sei. Das gab mir den Rest. Obwohl seine grünen Augen wohl einen verzaubernden Blick für viele Mädchen hatten, war mir das egal und er fing sich einen heftigen Schlag ein.
„Du hast also die ganze Zeit verstanden, was ich gesagt habe und hast NICHTS gesagt. Weißt du, wie PEINLICH das war, so herumzuhampeln vor so einem gutaussehenden Mann???"
Mist, hatte ich das gerade laut gesagt? Schaffte ich nichts anderes als selbst im wütenden Zustand noch ungeniert Komplimente zu verteilen.
Nicht nur ich, sondern auch der Fremde hatte das bemerkt. Zumindest konnte ich das an seinem blöden schelmischen Lachen festmachen. Ich geriet immer mehr in Rage.
„Wäre ich nicht so in Not, dann hätte ich das nicht gemacht. Schamloser Ausnutzer! Zeig mir jetzt wenigstens, wo die blöde Apotheke ist, sonst sterbe ich wirklich noch."
Die Kälte schien mich langsam einzunehmen. Sich bei -20 Grad mit vermutlicher Krippe im Schnee zu wälzen, war taktisch nicht sehr klug. Anscheinend amüsierte ihn das ganze immer noch.
„Ein Gentleman hilft doch immer einer armen Maid."
Obwohl ich ihn für diesen Spruch hasste und erstaunt war, dass er es auch schaffte mehr als ein Wort zu sagen, versuchte ich mich zu beherrschen. Als er sah, wie ich fror, zog er seine Jacke aus und gab sie mir. Erstaunt schlüpfte ich ohne ein Wort zu sagen hinein.
Eigentlich schuldete er mir das hier nach dem ganzen Spektakel auch, versuchte ich mir einzureden.
Ein Duft von Vanille umhüllte mich. Fast wie selbstverständlich nahm er meine Hand und marschierte los. In welche Richtung auch immer.
Ich wollte schon etwas zu ihm sagen, aber da fiel mir auf, dass ich noch nicht mal seinen Namen kannte...
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Sprung ins Glück
FanfictionSich in den Erzrivalen ihres Fast-Ehemanns zu verlieben steht definitiv nicht auf der To-Do-Liste von Emilias Leben. Das aus einem kleinen Gefallen und der Sehnsucht nach Heimat, ein verbotener Kuss und die verzweifelte Suche nach einem Skispringer...