Oberstdorf 2 - 29.12.2018

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Schicksal oder Zufall? In letzter Zeit habe ich mich oft gefragt, ob es sowas wie Schicksal gibt. Führt uns jede verpasste Gelegenheit doch in die richtige Richtung? Macht es einen Unterschied, ob ich jetzt diesen Zug nehme oder die Bahn verpasse? Ist es nur ein Zufall, dass ich Jojo dieses Jahr bei dem Weltcup begleite und zugleich auch das Casting von der DSV-Produktion ausgeschrieben wurde? Was wäre, wenn mein Vater nicht den Job in Japan angenommen hätte? All diese Fragen in meinem Kopf wollen in letzter Zeit einfach keine Ruhe geben. Führt uns jede verpasste Gelegenheit schlussendlich doch wieder auf den richtigen Pfad oder hat jede Entscheidung, jede Handlung, jeder Wimpernschlag doch seine Richtigkeit. Kann man bei vielen „richtigen" Zufällen überhaupt noch von einem Zufall versprechen. Jeder Mensch hat ein Schicksal, was sich schlussendlich für ihn erfüllt. Oder ist Markus etwa nur ein dummer Zufall? Soll er mich auf die Probe stellen? Irgendwas hatte sich in mir verändert und das spürte ich von Zeit zu Zeit immer mehr. In diesem Augenblick wünsche ich mir nichts mehr, als dass uns das Schicksal – oder der Zufall – wieder zusammenführt. Ob ich jemals eine Antwort auf meine Fragen finden werde? Ich kann mich nur an die Hoffnung klammern, dass alles seine Richtigkeit hat und dass wir uns zwar heute nicht sehen werden, aber vielleicht an einem anderen Tag...

Und so stand ich Mutter Seelen allein vor einem riesigen Tor. Versunken in Gedanken für die ich mich eigentlich gar nicht interessieren dürfte. Die pompöse Eröffnungsfeier hatte ich mir gestern per Internet-Livestream angeschaut. Obwohl ich direkt vor Ort gewesen war, hatte ich mir das pompöse Feuerwerk nicht anschauen können. Es war einfach unmöglich als Jojos inkognito Begleitung unterwegs zu sein und gleichzeitig vor dem DSV-Kamerateam zu flüchten. Sich einmal zu verstecken war ok, aber gleich vor 2 ganzen Nationen zu fliehen war einfach unmöglich. Irgendwas machte ich doch falsch in meinem Leben. Eigentlich wollte ich etwas erleben. Also wurmte es mich umso mehr, alleine in Gammel-Klamotten einer spektakulären Show im Internet zuzuschauen, obwohl sich das ganze gleich um die Ecke abspielte.
Vielleicht war es aber auch ganz gut so. Das Schicksal wollte es anscheinend so mit mir. Meine Hand schmerzte bei manchen Bewegungen immer noch sehr. Äußerlich war sie wieder top verheilt, aber das hieß schließlich noch lange nicht, dass es innerlich perfekt aussah. Eine gewisse Abknick-Bewegung tat immer noch enorm weh. Aber zum Arzt zu gehen konnte ich mir in meiner Situation nicht erlauben. Heimlich zu einem Doktor zu schleichen kam nicht in Frage. Schließlich hatte ich dieses Wochenende noch viel vor. Es war Zeit in meine Heimat zurückzukehren und in lang vergangene Erinnerungen, die ich bis jetzt sicher in der hintersten Ecke meines Kopfes versteckt gehalten hatte, einzutauchen. Das hatte ich mir jedoch für Garmisch-Patenkirchen aufgehoben. Nach dem Springen wollte ich Grainau einen Besuch abstatten. Ich hatte Jojo noch nicht verraten, dass ich mein Elternhaus aufsuchen wollte. Dafür hatte ich noch nicht die richtige Gelegenheit gefunden. Und wenn ich ehrlich sein wollte, war ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich wollte, dass er mitkam. Es schmerzte mir selbst immer noch sehr, wenn ich an die alten Zeiten zurückdachte. Und ich wusste nicht, ob ich jetzt schon bereit war, diesen Moment und diese Schmerzen mit jemandem zu teilen.
Nichtsdestotrotz hatte ich erst einmal den heutigen Tag zu bewältigen. Halb Vorfreude, halb Angst spiegelten sich in mir wieder. Heute war das Quali-Springen. Was einerseits hieß, dass ich Jojo heute fast nicht zu Gesicht bekommen würde – außer einen halb sabbernden und verschlafenen Penner heute morgen – und ich schon wieder von einer Kamera verfolgt werden würde. Obwohl es offiziell als „schnuppern beim Quali-Springen" betitelt wurde, bedeutete das anscheinend auch, dass ab und an ein paar nette Fotos gemacht und Video-Schnipsel gedreht werden würden. Hoffentlich hatten sie ihren Film bald in der Tasche und würden mich und Leni in Ruhe lassen. Wobei ich mir echt vorstellen könnte, dass das Team und auch Leni daran wirklich Gefallen finden könnten und am Ende würde noch eine ganze Doku meines Lebens dabei herauskommen.
Filmreif war ich auf jeden Fall schon mal. Welcher Mensch konnte schon alleine vor einem Tor stehen und gleichzeitig auch noch so dermaßen hilflos aussehen. Genervt blickte ich auf meine Uhr. Das Springen begann um 16:30 Uhr und obwohl ich Leni einen Zeitpuffer von 30 Minuten gegeben hatte, war sie trotzdem schon 45 Minuten zu spät. Und diesmal konnte sie das nicht auf die deutsche Bahn schieben. Sie war nämlich gestern schon angekommen. Davon hatte sie mir freudestrahlend – soweit ich das über den Hörer erkennen konnte – per Telefon berichtet. Es war wirklich nicht mein Ding, um 15 Uhr Mittagessen zu gehen. Aber was soll's. Weniger Zeit vor der Kamera. Und weniger Chancen Markus über den Weg zu laufen...
Auf einmal umarmte mich jemand von hinten und meine ganze „Ästhetik", die ich gerade so schön aufgebaut hatte, brach in sich zusammen. Schnurstracks drehte ich mich um, hob dabei meinen Arm an und boxte dem Kidnapper mit meinem Ellbogen in die Rippen. Dabei merkte ich, wie meine Hand wieder anfing zu schmerzen. Als ich zu meinem Leid feststellen musste, dass ich gerade ausversehen meiner besten Freundin eine kinoreife Kampfattacke abgeliefert hatte, versuchte ich den Stich in der Hand „gekonnt" zu ignorieren und zu versuchen, mir nichts anmerken zu lassen. Dank meiner Schauspielkünste, gelang mir der Versuch natürlich auch. Wobei es vermutlich eher an Lenis überschwänglicher Freude mich zu sehen, lag.
Zuerst war ich mir nicht sicher, wie ich auf ihre Umarmung reagieren sollte. Schließlich war sie es gewesen, die meine Anrufe tagelang ignoriert und auf keine meiner Nachrichten geantwortet hatte. Und das alles nur, weil ich ihr ihren „Eisei" mit den überaus morzmäßigen Muskeln ausgespannt hatte. Absichtlich natürlich. Amüsiert bei diesem Gedanken oder eher bei denen über Markus, verdrehte ich belustigt die Augen.
Auch Leni blieb meine Reaktion nicht aus und so drehte sie sich verwundert um.
„So witzig bin ich ja nun auch wieder nicht. Eher die deutsche Bahn und ihre Ver..."
Jetzt konnte ich mein Lachen wirklich nicht mehr zurückhalten und musste laut losprusten.
„Leni, wir haben gestern Abend telefoniert!" entgegnete ich. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du erst heute Morgen angekommen bist, wenn du dich schon gestern bei mir über das schlechte Bett in deinem Hotelzimmer beschwert hast:"
Auch sie bemerkte ihren Fehler und so blieb sie – wie ich es selten bei ihr erlebte – mucksmäuschenstill. Schnell nutze ich meine Chance und ergriff die Initiative.
„So wir haben viel vor. Mein Magen grummelt und dann hört man bei den Video-Aufnahmen nichts außer ein großes GRRRRR."
Ich bemerkte, wie sie bei dem Wort „Video-Aufnahmen" schon große Augen machte. Es war wirklich witzig, wie zwei so enge Freunde, so unterschiedliche Meinungen haben konnten. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntermaßen an. So wie ich und Markus... Aber daran durfte ich jetzt keinen Gedanken verschwenden. Schließlich war ich noch die einzige Überlebende, die seinen Flirtattacken stand hielt. Außerdem nennt sich ein Esel ja bekanntermaßen zuerst und so ein egozentrischer Mensch wie „Eisei" wollte ich nun wirklich nicht werden. Wobei sein bayrischer Akzent – das war doch hoffentlich bayrisch? – schon echt süß war. Genervt von mir selber schüttelte ich den Kopf. Lena fühlte sich natürlich wieder sofort angesprochen.
„Was denn? Kameras müssen doch nichts Schlechtes sein? Außerdem, was willst du schon wissen. Mit dir habe ich eh noch ein Hühnchen zu rupfen. Wegen dir bombardiert Ändi mich jetzt 24/7 mit Nachrichten."
Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch, was ich jetzt schon wieder falsch gemacht hatte, wollte mir einfach nicht in den Kopf gehen. Ich kannte diesen komischen neuen Flirt – oder was auch immer der Typ für Leni war – nicht und was ich damit zu tun hatte, blieb mir auch unerklärlich.
Bis ich bemerkte, wie Leni auf einmal rot anlief und etwas kleinlaut wurde.
„Ändi ist Andreas Wellinger. Du weißt schon, der junge Bursche..." Amüsiert grinste ich.
„Und schon hast du einen Spitznamen für ihn oder wie?" Anscheinend hatte sie sich ja schon noch ganz gut mit Mr. Fehlende-Geistige-Reife anfreunden können.
„Wobei kreativ ja was anderes ist..."
Empört plauderte sie nun auf einmal wie ein Wasserfall. „Sorry, ist halt n Insider. Er macht sich nur manchmal drüber lustig, wie die japanischen Reporter seinen Namen aussprechen: Irgendwas verzerren sie immer. Da wird aus dem e ein ä und auf einmal heißt er Wällinger..."
„Achso, und um ihn etwas aufzuziehen heißt er jetzt Ändi? Schon klar. Dir ist schon bewusst, dass was sich liebt, sich auch neckt.  Du scheinst mir ja schnell über deine Niederlage (dabei versuchte ich Gänsefüßchen in die Luft zu machen. Was mir mit meiner Hand etwas schwerfiel. Aber ich schaffte es schlussendlich dann doch noch ganz gut) hinweg gekommen zu sein. Dann kann ich Markus ja jetzt ganz alleine für mich haben."
Triumphierend deutete ich meine übermäßige Freude an und war wieder einmal von mir selbst begeistert. Mein Schauspieltalent hatte ich heute echt mehrmals erfolgreich auf die Probe gestellt.
„Sososo ist das also. Tja, du hast mir anscheinend so einiges zu erzählen. Auch wie es hinter den Kameras abläuft. Du musst mir alles von eurem ersten Kuss erzählen."
Als ich schon anfangen wollte, zu protestieren, nahm sie mich - zum Glück unter den schmerzfreien - Arm und stapfte los in eine Richtung, die mir unerklärlich blieb.

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