Oberstdorf 1 - 27.12.2018

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Donnerstag... oder wie ich ihn immer so schön nenne: Der kleine Freitag. Es geht aufs Wochenende zu und zu meiner Schulzeit gab es da nichts Besseres. Entspannen und einfach mal die Füße hochlegen. Der Dorfdisco einen Besuch abstatten. Ich hatte es geliebt, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen. All das war Teil meines Lebens, bis die Diagnose kam...
Krebs kann man nicht vorhersehen. Er ist einfach da und macht einem das Leben unnötig schwer. Beharrlich knabbert er an all deiner Lebensenergie und man geht langsam daran zu Grunde. Ich spreche aus Erfahrung. Schließlich war ich Zeuge eines solchen körperlichen Zerfalls. Eigentlich ist es sogar fast schlimmer Zuschauer zu sein, als selber Krebs zu haben. Du musst zusehen wie es einem wichtigen Teil deines Lebens immer und immer schlechter geht. Aber es lag nicht an meinem Alter, dass ich tagelang zu Hause saß, weinte, vergraben in meinem Bett, und dafür betete, dass es meiner Mutter bald besser gehen würde. Mein Vater hatte nämlich fast mehr als ich damit zu kämpfen. Ich merkte, wie er daran zu Grunde ging. Jeden Abend kam er spät nachts aus dem Krankenhaus zurück, meist mit etwas Alkohol in der Hand und wenn dem nicht so war, dann war spätestens zu Hause der Zeitpunkt, sich eine Flasche Sekt zu öffnen. Eigentlich war es sogar ganz gut, dass ich Einzelkind war, dass ersparte wenigstens meinen potentiellen Geschwistern diesen Anblick. Und ich weiß auch nicht, ob ich es geschafft hätte, sie zu trösten. Schließlich war ich selber schon ziemlich am Ende und hatte mit der Situation zu kämpfen.
In Gedanken versunken warf ich einen Blick auf mein Handy. Als 11 Uhr auf meinem Bildschirm aufblinkte, wusste ich, dass ich mich jetzt beeilen musste. Der Tag sah volles Programm vor und ich hatte keine Lust mit Schweiß und verwuschelten Haaren abgelichtet zu werden. Generell hatte ich wenig Lust auf diesen Fotoshooting. Das hatte ich alles nur Leni zu verdanken, wobei ich mir auch eingestehen musste, dass ich das Ganze auch wegen einem anderen Nebenaspekt tat. Schließlich floss ein Teil der Einnahmen in eine Krebshilfe und so konnte eventuell noch anderen Menschen das Leben gerettet werden. Auch wenn es bei meiner Mum schon zu spät war. Ich redete nicht gerne darüber. Selbst Jojo wusste nur einen kleinen Teil der Geschichte und ich hatte auch nicht vor, dass in nächster Zeit zu ändern. Schließlich hatte ich selber noch damit zu kämpfen.
Trotzdem wollte ich heute nicht so viel Trübsal blasen. Das hatte ich mir geschworen. Schließlich würde ich mich morgen mit Lena treffen und zusammen das Quali-Springen anschauen. In dem Zuge hatte ich ihr versprochen, ihr Eisei offiziell vorzustellen. Hoffentlich verplapperte sie sich nicht. Wenn sie aufgeregt war, konnte sie ihren Redeschwall nämlich nicht so gut kontrollieren. Was mich schon in die ein oder andere peinliche Situation gebracht hatte.
Trotzdem galt es erstmal, den heutigen Tag hinter mich zu bringen und der würde erstmal anstrengend genug werden. Um noch duschen zu können, beschleunigte ich mein Schritttempo. Fertig mit dem Joggen und im Hotel angekommen, nahm ich nur jede zweite Stufe und hoffte niemanden der anderen Nationen aufzufallen. Schnell warf ich noch einen Blick auf mein Handy, da ich Tom versprochen hatte, um 12:30 Uhr bei der DSV-Produktion zu sein. Sie hatten ein riesiges Zelt-Konstrukt aufgebaut, was nicht zu übersehen war. Direkt neben der Schanze, damit jeder, der zum Springen wollte, an dem fetten Banner „es ist Wert sich einen Adler zu holen, um sich von den oberflächlichen Männern zu erholen" vorbeimusste. Dieser Spruch war einfach nur peinlich, da er sich nicht mal richtig reimte. Eigentlich musste ich denen Mal zeigen, wie man gescheite Werbung machte. Was mich wunderte war einfach nur, dass Jojo bei dem ganzen Trubel um die Sendung immer noch gar kein Interesse dafür gezeigt hatte. Vermutlich, weil er kein Deutsch verstand und sich voll und ganz auf die Tournee konzentrieren wollte. Es war aber nur eine Frage der Zeit bis das Ganze hier schief laufen würde, das wusste ich. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. In letzter Zeit merkte ich immer mehr, wie sich etwas zwischen uns veränderte. Er war immer in Gedanken voll und ganz beim nächsten Training und ich musste Haut und Haar dafür riskieren, dass der ganze „Spaß", den ich nebenher betrieb, nicht auffiel. Für viele von uns ist Liebe etwas Selbstverständliches, nachdem der Alltag kommt. Manchmal merken wir nicht, wie wir mit vielen kleinen Stichen unbewusst unserem Partner Stiche im Herzen zufügen, die eine Narbe hinterlassen. In letzter Zeit habe ich mich immer mehr von Jojo distanziert. Zum einen, damit er mir nicht so viele Fragen stellte, was ich denn in meiner Freizeit tat, zum anderen, weil ich nicht mehr richtig wusste, wie ich mit seiner Nähe umgehen sollte. Ich glaube das Springen bietete ihm in dieser Situation Zuflucht, um sich nicht so viele Gedanken über unsere Beziehung machen zu müssen. Früher hatte ich mir die große Liebe immer als etwas Aufregendes vorgestellt, als etwas, was einen jeden Tag aufs Neue überrascht. Bei Jojo und mir war es einfach etwas, was zum Alltag dazu gehörte und unser tägliches Leben bestimmte. Irgendwann hatte ich mich damit abgefunden.
Genauso wie mit meiner Tollpatschigkeit. In Gedanken versunken, stieß ich auf einmal mit Etwas Festem zusammen. Ich musste schmunzeln, da es langsam echt zur Gewohnheit wurde, dass Markus und ich aufeinandertrafen. Mein Herz machte einen Satz als ich an ihn dachte. Vorfreudig richtete ich meinen Blick nach oben, während ich mir schnell durch die Haare fuhr, um wenigstens noch etwas Ansehbares aus dem verschwitzten Büschel Haare zu machen.
Mein Blick traf zwei dunkle Augen, die mich belustigt anstarrten.
„Ich weiß ja nicht, was ihr beiden genommen habt, aber das muss ja echt krasses Zeug sein." Entgegnete mir mein Gegenüber. Ich lief rot an und wusste nicht, was ich Wabbi dem wabbelnden Senior entgegnen sollte. Noriaki wurde von jedem geachtet und verdiente den größten Respekt. In einem so hohen Alter auf noch einem so hohen Niveau zu springen, schaffte wohl niemand mehr. Jedem in der Mannschaft war seine Leistung bewusst, was früher dazu führte, dass es eine klare Rangordnung in der Mannschaft gab. Ich fand das ein bisschen altertümlich, als ich davon das erste Mal gehört hatte. Damir, dass die jüngeren die Skier der Älteren tragen mussten, hatte ich mich nie angefreundet. Die ganze japanische Kultur hatte mir Angst gemacht. Aber mit fortlaufender Zeit, nahm auch das immer mehr ab und erst letztens hatte Noriaki Jojo vor den Kameras höchstens gelobt. Nur selten hatte ich meinen Freund so glücklich über ein Kompliment erlebt. Auch ich hatte meinen Frieden mit dem alten Mann gefunden und nach anfänglichen Schwierigkeiten, verstanden wir uns jetzt richtig gut.
„Ähm was meinst du?" erwiderte ich verwundert.
Sein amüsantes Grinsen brachte mich komplett aus meinem Konzept und ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, irgendwelches „Zeug" eingenommen zu haben. Eventuell hatte Markus mir ja was verabreicht, der konnte was erleben, wenn ich ihn das nächste Mal sehe...
„Naja, heute morgen hätte Jojo mich fast umgerannt. Jetzt du. Kann sich einer vorstellen, dass man extra um 5 Uhr morgens aufsteht um schon der erste an der Schanze zu sein. Der kann es ja anscheinend gar nicht mehr abwarten, dass die 4-Schanzen-Tournee startet. Dabei ist ja auch noch mega die Zeit. Wobei, wenn ich mich daran zurückerinnere, wie ich 1989 bei der WM in Lahti das erste Mal auf dem Balken saß und die jubelnde Menge unter mir erblickte..."
Spätestens jetzt war es an der Zeit, den alten Mann zu unterbrechen. Denn ich wusste, wenn ich es jetzt nicht tat, dann war es zu spät. Nicht selten dauerte seine Ausführung über sein erstes Springen über eine Stunde und das konnte ich mir jetzt definitiv nicht leisten.
„Jojo hat mich gebeten, ihm noch was Wichtiges zur Schanze zu bringen und ich bin schon mega spät dran... Also entschuldige mich bitte. Ich höre mir die Geschichte gerne nochmal später an." Flunkerte ich.
Noriaki hob neugierig eine Augenbraue. „Na, ist das euer geheimer Energy Drink. Red Bull? Verleiht ja bekanntlich Flügeeeeeeel." Witzelte er und begab sich dabei in eine Flugposition.
„Sieht zwar eher aus wie ein sterbender Schwan, aber ja, sowas in der Art." Entgegnete ich mit einem Zwinkern und machte mich auf den Weg in mein Hotelzimmer.

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