Kapitel 10

371 31 0
                                    

Nach der Schule fuhren wir mit dem nächsten Bus Richtung Stadt. Während der Fahrt traute ich mich nicht Valerian wegen seiner Verspätung damals in der Bibliothek anzusprechen.

Ich spürte, dass jetzt kein guter Zeitpunkt war, um ihn darauf anzusprechen. Vielleicht würde sich in der Stadt eine bessere Ansprechmöglichkeit ergeben. Doch im Moment war Valerian so in seine Gedanken vertieft, dass er meine Frage nicht einmal wahrnehmen würde.

Erst jetzt schaute ich mich im Bus um. Seit wir vor ca. fünf Minuten eingestiegen waren, war ich so mit mir beschäftigt, dass ich vergessen hatte, auf potenzielle Verfolger zu achten.

Gerade als ich entspannt feststellen wollte, dass kein bekanntes oder auffälliges Gesicht unter den Passanten war, entdeckte ich den grauen Schopf des alten Mannes aus der Bibliothek.

Er saß ein paar Plätze vor uns. Auch wenn er sich nicht in meiner Sichtweite befand, wusste ich, dass er sich wegen mir im Fahrzeug aufhielt.

Mein Herz hämmerte unermüdlich gegen meine Brust und drohte meinen Brustkorb zu sprengen. Mein Atem ging nur mehr stoßweise und meine Hände begannen zu schwitzen. Mir wurde plötzlich schwindelig und ich fürchtete, erdrückt zu werden.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Zitternd schaute ich mich um und starrte direkt in die besorgten, grauen Augen von Valerian.

Sie spiegelten einen Wirbelsturm an Gefühlen wider. Ich sah in ihnen eine Mischung aus Angst, Sorge, Verwirrtheit und noch eine undefinierbare Emotion. War das Trauer?

„Alles in Ordnung?", sprach er mich nach kurzem Schweigen an. „Ich denke schon. Aber ich glaube, dass da vorne der alte Mann aus der Bibliothek ist", murmelte ich bedrückt und deutete vage mit einer Hand in die Richtung des Alten.

Valerian zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, er schien mit sich zu ringen. Dachte er über den Wahrheitsgemäß meiner Aussage nach? Mein Herzschlag hatte sich mittlerweile wieder normalisiert. Immer noch blickte ich in Valerians Augen.

Ich suchte nach etwas, dass mir eine Antwort auf all meine Fragen gab, doch ich fand dieses etwas nicht. Und in dem Moment sah ich den Schmerz in seine Augen. „Valerian? Geht es dir gut?", fragte ich den Jungen neben mir besorgt. Er nickte nur und wendete seinen Kopf von mir ab.

Nach einer Stunde auf der Einkaufsstraße hatten wir immer noch nichts Passendes gefunden. Doch Valerian behauptete noch einen guten Laden zu kennen. Skeptisch schaute ich ihn an.

Die letzten Geschäfte, die wir aufgesucht hatten, waren alle irgendwelche Krimskrams-Läden, in denen man nichts Brauchbares finden konnte. Ich zweifelte mittlerweile daran, dass wir überhaupt noch ein gutes Geschenk für seine Mutter finden würden.

Also war es an der Zeit Valerian in andere Geschäfte zu führen. „Trägt deine Mutter Schmuck oder isst sie gerne Schokolade?", fragte ich nach den Basics der Geschenkideen.

Verdutzt blieb Valerian mitten in der Menschenmenge stehen und schaute mich überrascht an. „Ja schon, aber ist das nicht zu einfach? Ich brauche doch etwas Außergewöhnliches, um bei meiner Mutter punkten zu können. Oder nicht?"

„Es kommt doch nicht auf ein ausgefallenes Geschenk an, sondern darum, dass es von Herzen kommt", erklärte ich Valerian während ich mir kein Grinsen verkneifen konnte.

Er schaute mir nachdenklich in die Augen, aber als er geschlagen nickte, wusste ich, dass ich bereits gewonnen hatte. Also machten wir uns auf den Weg zu einem Schmuckgeschäft.

Dort angekommen schauten wir uns eine Zeitlang die Ketten an. Wobei mit wir eher ich gemeint war, denn Valerian folgte mir nur und erwartete wohl, dass ich das Schmuckstück aussuchte.

„Valerian, höre auf mich zu verfolgen und suche gefälligst selbst eine schöne Kette für deine Mutter aus. Ich weiß doch nicht was ihr gefällt", ermahnte ich den planlosen Jungen, welcher nun neben mir stand und eines der Ketten in der Vitrine unmittelbar vor uns betrachtete.

„Na gut", gab Valerian von sich und machte sich auf eigene Faust auf die Suche nach einem geeigneten Schmuckstück für seine Mutter. Gerade als ich mich nach Valerian umschauen wollte, entdeckte ich eine schlichte, Silberkette. Sie besaß einen Anhänger an welchem ein kleiner Vogel gefangen in einem Käfig baumelte.

Das Schmuckstück schien mich in seinen Bann gerissen zu haben. Meine Augen weiteten sich erschrocken, als mich meine Erinnerungen wieder aus der Reserve locken wollten. Schnell wandte ich mich davon ab.

Valerian war bereits beim Juwelier zahlen. Interessiert über seinen Kauf, überquerte ich mit wenigen Schritten die Distanz zwischen uns und stand nun neben ihm. Der Juwelier packte gerade eine Goldkette, an der ein prachtvolles Amulett baumelte, ein. Auf dem Anhänger zeichneten sich dünne, goldene Linien ab, welche ab und zu von einem silber glänzenden Steinchen unterbrochen wurden. Das Motiv konnte ich nicht erkennen, denn der Geschäftsführer hatte die Kette schon behutsam in einem kleinem Stoffsackerl untergebracht.

„Und? Hast du was gefunden?", kam es plötzlich von Valerian, welcher mir einen flüchtigen Seitenblick zu warf. Schnell verneinte ich kopfschüttelnd seine Frage.

Dafür schoss mir eine andere Frage in den Kopf, wo hatte Valerian das Geld her, um eine so schöne Goldkette bezahlen zu können? Trotz dem Verlangen meine Frage auszusprechen, unterdrückte ich diesen Wunsch.

Grundsätzlich ging es mich nichts an und solange Valerian nichts in die Richtung andeuten würde, beschloss ich mir nichts anmerken zu lassen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nicht viel über seine Familie oder generell über Valerians Leben wusste.

Als wir aus dem Geschäft draußen waren, kauften wir noch eine Schachtel Pralinen und dann machten wir uns schonmal auf den Rückweg. Staunend betrachtete ich die unzähligen Läden, an welchem wir vorbei gingen.

Die Einkaufsstraße war überfüllt mit Menschen, die in die Nahe gelegenen Geschäfte hinein und hinaus strömten. Doch mit Valerian an meiner Seite fühlte ich mich sicher und geschützt. Nicht eine Minute hatte ich an eventuelle Verfolger gedacht.

Seit langem hatte ich mich nicht mehr so frei und entspannt gefühlt. Plötzlich sah ich sie. Zwei Mädchen standen abrupt vor uns und starrten mich abwertend an. Valerian erntete nur mitleidige Blicke.

„Gracie, schön dich zu sehen. Auch wenn ich nicht damit gerechnet hätte, dich je wieder zu sehen, nachdem was du deiner Schwester und deinen Eltern angetan hast. Und vor allem nachdem du deine zwei besten Freundinnen hintergangen bist", kommentierte das blondhaarige, groß gebaute Mädchen kalt.

Verwirrt starrte ich in Sophies braune Augen, welche vor Abscheu und Wut blitzten. Die kleine braunhaarige war Zoe. Wir drei waren vor langer Zeit unzertrennlich gewesen.

Bis zum Vorfall mit meiner Schwester, mit welcher sich auch Sophie und Zoe gut verstanden hatten. Ab dem Zeitpunkt ging alles den Bach hinunter. Meine zwei besten und einzigen Freundinnen begannen mich auszuschließen und mich schließlich irgendwann zu ignorieren.

„Ich habe euch nichts getan. Ihr wart die, die nach dem Vorfall nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Damals hätte ich euch gebraucht. Ich bin an den Schuldgefühlen fast zerbrochen", entgegnete ich mittlerweile aufgebracht.

„Wieso hätten wir auch mit einer Psychopathin befreundet sein wollen?", fauchte Sophie entrüstet zurück. Doch ihre Worte zeigten die gewünschte Wirkung.

Sie trafen mich tief im Herzen und rissen an den vernarbten Wunden meiner Vergangenheit. Doch ich ließ mir den Schmerz, den ihre Worte angerichtet hatten, nicht anmerken.

TeufelswerkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt