Kapitel 48

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Valerian saß neben mir. Immer noch schweigend. Meine letzte Frage hatte ihn wieder überrumpelt. Schuldbewusst starrte ich auf meine Hände, welche ich nervös in meinem Schoß knetete. Mein Blick glitt durch den Raum.

„Es tut mir leid", murmelte ich nach einiger Zeit. „Hmm?", kam es abwesend von Valerian. Ich atmete tief durch und sagte erneut, aber etwas lauter: „Es tut mir leid."

Er nickte darauf nur abwesend. Mit gemischten Gefühlen starrte ich wieder auf die leere Tischfläche vor uns. „Er hat zu Trinken begonnen", verließen die Worte plötzlich Valerians Lippen. Überrascht wandte ich mich dem Jungen neben mir zu. „Wer?"

Valerian seufzte auf: „Mein Vater. Er hat nach dem Tod meiner Mutter und meines Bruders zum Alkohol gegriffen."

„Das tut mir wirklich unglaublich leid", erwiderte ich betroffen und versuchte so viel Mitgefühl wie möglich in meine Worte hineinzustecken. „Und...und was ist dann aus dir geworden?", fragte ich leise nach.

„Aus mir? Nichts. Ich blieb bei meinem Vater. Natürlich kam ich in psychologische Behandlung. Selbst jetzt muss ich noch regelmäßig hingehen", antwortete er mir mit dunklem Unterton.

Blöderweise wusste ich seine bedrückte Stimmlage nicht zu deuten. Sein letzter Satz hing noch lange Zeit in der Luft. Selbst als die Wissenschaftler den Raum betraten und mich von Valerian wegführten. Widerstandslos ließ ich es zu.

Schuldgefühle dominierten meine Gedanken. Ich hatte ihn gerade gebrochen zurückgelassen. Obwohl ich versprochen hatte, für ihn da zu sein. Mit gesenktem Kopf und schweren Herzen ließ ich mich zu meinem Zimmer führen.

Zumindest dachte ich, dass mein Weg dorthin führen würde. Wie sich später heraus stellte stand heute noch ein zweites Gespräch auf meiner Tagesliste.

Nach kurzer Zeit erreichten wir eine schlichte Tür. Von außen sah sie aus wie alle anderen. Eine von vielen. Doch im Inneren befand sich eine ganze Wohnung.
Überrascht schaute ich mich im Vorzimmer um.

Die Wissenschaftler hatten mich mit einem schlichten: „Warte hier", im kleinen Raum stehen gelassen. Dann waren sie einfach gegangen. Unwissend auf wen ich wartete, ließ ich mich auf den Boden nieder.

Erschöpfung machte sich in mir breit und so lehnte ich mich müde an die Eingangstür an. Im nächsten Moment war ich schon in eine erfundene, heile Welt abgedriftet.

Ein heller Lichtstrahl weckte mich aus meinem ruhigen Schlaf. Verwundert richtete ich mich auf. Ich saß nicht mehr im Vorzimmer der Wohnung, sondern auf einem weichen Bett. Mein Blick strich durchs Zimmer.

Dunkle hölzerne Möbel dekorierten den, mit einem weißen Teppich überzogenen, Boden. Ein bekannter Duft stieg mir in die Nase. Doch ich konnte ihn nicht zuordnen.

Ich suchte nach einem Anhaltspunkt. Ich fixierte den Kleiderschrank und den daneben stehenden Schreibtisch. Auf dem Tisch war ein Zettelhaufen, neben dem ein Kugelschreiber lag.

Interessiert stieg ich aus dem Bett und ging zur gegenüberliegenden Arbeitsfläche. Ich hob das erste Blatt hoch, um es genauer im Sonnenschein betrachten zu können. Ich wurde stutzig. Sonnenschein?

Mein Blick blieb am großen Fenster hängen. Es war am Ende des Bettes. Mit wenigen Schritten hatte ich es erreicht. Ich schaute hinaus und sah nur Bäume. In der Ferne sah ich, dass der Wald ein wenig anstieg und über einen Hügel weiter verlief.

Das musste die andere Seite des Gebäudes sein. Die Vorderseite kannte ich von meinem Ausbruch. Nach einem kurzen Waldstück erreichte man einen großen, abgelegenen Busbahnhof. Vor dem großen, rechteckigen Gebäude verlief eine plumpe asphaltierte Straße. Vermutlich führte sie weiter in ein nahe gelegenes Dorf.

Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Papier in meiner Hand. „Teufelswerk oder Gabe?", stand auf der ersten Seite. Darunter stand noch ein Name. Katherine Spring.

Mein Herz setzte ein paar Schläge aus. Der Name wurde von meiner Großmutter getragen. Hatte sie etwa ein Buch über unsere Fähigkeiten geschrieben? Meine Hand fuhr behutsam über unseren gemeinsamen Nachnamen.

Meine Mutter hatte mir vor langer Zeit erzählt, dass sie nach der Hochzeit mit meinem Vater, ihren Mädchennamen nicht abgelegt hatte. Sie wollte den Namen unbedingt behalten. Schließlich überredete sie meinen Vater dazu, meiner Schwester und mir ebenfalls ihren Nachnamen zu vermachen.

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Manchmal konnte meine Mutter ziemlich stur sein. Doch viel zu schnell erstarb die von Fröhlichkeit gezeichnete Emotion.

Mein Blick wurde hart und ich dachte an meine neu gewonnenen Erkenntnisse zurück. Wenn stimmte, was die Wissenschaftler behaupteten, dann war meine Mutter das wahre Übel.

Dennoch hatte sie mir nie ein Haar gekrümmt, wohingegen mein Vater schon schmerzhafte Verfahren an mir getestet hatte. Also was verdammt nochmal wurde hier gespielt? Wer war gut und wer war böse? Spielte das überhaupt noch eine bedeutende Rolle?

Vielleicht irrte ich mich und beide Sorgten sich einen Dreck um mich. Es konnte ebenso ein Machtkampf zwischen meinen Eltern sein. Wer mit mir am meisten Geld verdienen konnte hatte gewonnen.

Aber das ergab überhaupt keine Sinn. Meine Mutter hatte doch angeblich auch eine Fähigkeit. Sie wusste wie es mir erging. Wieso tat mir das meine Erziehungsberechtigte dann an? Überhaupt nichts ergab einen Sinn.

Planlos schaute ich mich erneut im Zimmer um. Warum war ich hier? Wenn ich mich nicht irrte, dann gehörte diese Wohnung meiner Großmutter. Trotzdem hatte ich außer dem angehenden Buch kein Anzeichen von ihrer Anwesenheit ausmachen können. Also konnte es immer noch sein, dass sie tot war.

Mein Blick blieb wieder an dem Papierstapel hängen. Nachdenklich verhärtete sich mein Gesichtsausdruck. Dann begann ich den Stapel nach Hinweisen zu durchwühlen. Ich wusste nicht genau nach was ich überhaupt suchte, doch mein Gefühl sagte mir, dass hier etwas nicht stimmte.

Mein Unterbewusstsein hatte anscheinend nicht ganz unrecht gehabt. Mein Herz setzte für ein paar Schläge aus, als ich die letzte Seite erreichte. Ein einziges Wort stand in der Mitte des Papiers. Drumherum waren unleserliche Notizen mit einem Bleistift gemacht worden.

Ungläubig richtete sich meine Aufmerksamkeit wieder auf die gedruckten Buchstaben in der Blattmitte. Schockiert versuchte ich seine Bedeutung zu erfassen. Tief brannte sich sein Anblick in mein Gehirn.

Hoffnungsvoll schloss ich fest die Augen, in der Hoffnung es würde verschwinden. Doch das tat es nicht. Bedrohlich starrte das Wort mit seinem Satzzeichen auf mich herauf. Mein Herz drohte zu zerspringen. Lautlos glitt das Wort über meine Lippen:

„Heilung?"

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