Was hatte das zu bedeuten? Ich verstand es nicht. Wieso stand auf dem letzten Blatt „Heilung?". Es machte keinen Sinn. Wie sollte ich das deuten? Eins wusste ich jedoch, meine Großmutter war nicht die, für die sie sich ausgab.
Meine Hände begannen zu zittern. Wie konnte sie nur? Ich hatte ihr vertraut. Sie in mein Herz geschlossen und sie hat mich durchgehend belogen. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte und was nicht.
Wie sollte das noch nicht vorhandene Kapitel hinter dem Wort aussehen? Bedeutete es meine Heilung? Die Heilung von dem Fremden in mir? Vielleicht lag ich mit meiner Vermutung auch falsch.
Zum gefühlt hundertsten Mal wusste ich nicht, wem ich glauben konnte.
Plötzlich hörte ich Schritte direkt vor der Tür. Doch es war zu spät. Ehe ich reagieren konnte, wurde die Tür aufgerissen und eine Frau betrat das Zimmer. Großmutter. Ein falsches Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.
„Wie geht es dir, Liebes?", fragte sie als wäre nichts passiert. Als hätte ich sie nie sterben sehen. Meine Augen wurden groß. Sie lebte. Aber wie war das möglich? Ich hatte sie sterben sehen. Die mutierte Riesenschlange hatte sie doch zerquetscht. Wie konnte sie das überlebt haben?
Sprachlos starrte ich meine Oma einfach nur an. Kein Wort wollte mir über die Lippen gleiten. Fest umklammerte ich das Papier in meinen Händen. Der Gesichtsausdruck meiner Großmutter wurde kalt. Ihre Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen.
Endlich hatte ich meine Stimme wieder gefunden. „Was...was ist das?", fragte ich mit zitternder Stimme nach. Dabei schweifte mein Blick die anderen Seiten auf dem Tisch. Meine Oma antwortete nicht. Sie schien einen inneren Kampf mit sich zu führen.
„Was bedeutet das?", fragte ich während ich das Blatt in meiner Hand ihr entgegen hielt. „Willst du das wirklich wissen? Die Wahrheit?", entgegnete mir meine Oma. Ihr Gesicht war leer von allen Emotionen. Ausdruckslos musterte sie mich aufmerksam.
„Ja. Ich will endlich wissen, was hier los ist", erwiderte ich bestimmt. Sie nickte und deutete mir ihr zu folgen. Wortlos folgte ich ihr aus dem Zimmer. Wir durchquerten das Vorzimmer und gelangten in ein kleines Wohnzimmer.
Große Fenster erhellten den Raum. Auch dieses Zimmer war der Waldseite zugewandt. Außerhalb befanden sich reihenweise Bäume. In der Mitte des Raumes stand ein Sofa mit zwei dazugehörigen Sesseln. Ein kleiner Couchtisch war vor das Sofa platziert worden. Die Sitzgelegenheit bot eine schöne Aussicht auf den Wald.
Wir setzten uns. Ich auf das Sofa und meine Oma auf einen der beiden Sessel. Nervös legte ich meine Hände in meinen Schoß. Ich wusste nicht, was jetzt auf mich zukommen würde. Wollte ich wirklich die Wahrheit erfahren?
Tief im Herzen wusste ich, dass sie mich zerstören würde. Mein Herz schmerzte bei dem Gedanken, dass meine Oma mich belogen hatte. Ich senkte meinen Blick und starrte auf die Glasplatte vor mir.
„Na gut. Also die Wahrheit", setzte meine Oma konzentriert an. „Was möchtest du wissen?", fragte sie mich. Ich spürte ihren forschenden Blick auf mir.
„Einfach alles. Wie du überlebt hast. Wieso du mich verlassen hast. Was das für ein Skript auf deinen Schreibtisch ist und worum es im letzten Kapitel gehen soll." Meine Oma nickte ernst.
„Es tut mir leid, aber ich muss dir zuerst gestehen, dass ich dich von Anfang an belogen habe." Die Worte bohrten sich tief in mein Herz hinein. Tränen bildeten sich in meinen Augen. Ich hatte ihr vertraut. Trotzdem sagte ich nichts. Ich wollte die ganze Geschichte erfahren.
„Deine Mutter hatte nie eine Fähigkeit. Die Gabe wird nur auf jede zweite Generation weitervererbt. Von Anfang an war es ich gewesen. Meine Fähigkeit ist die Manipulation. Und auf deine Fragen zurückzukommen. Ich wollte dich mit meiner Ermordung gegen deine Eltern aufbringen. Sie hatten sich schon immer gegen mich gewährt. Doch wenn deine Eltern sehen, dass sie dir nichts bedeuten, verlieren sie vielleicht ihren Kampfwillen. Doch so weit kam es nicht. Denn dann hast du plötzlich die Wissenschaftler auf eine mögliche Heilung angesprochen. Die Transplantation des Fremdkörpers. Erst dann habe ich erfahren, dass deine Mutter die Ärztin war, die den Fremden überhaupt erst in dich eingepflanzt hat. Somit öffneten sich für mich ganz neue Türen", erklärte mir meine Oma.
Sie machte eine kurze Sprechpause. Ihre ansonsten blauen Augen wurden merklich dunkler. Sie wirkten bedrohlich. So als würde etwas meiner Großmutter nicht passen.
Ich war so schockiert und sprachlos über ihre Ehrlichkeit, dass ich kein Wort heraus bekommen konnte. Aber das war gar nicht nötig, denn sie setzte wieder zum Sprechen an.
„Jedoch hatte ich immer noch ein Problem. Dein kleiner Freund, Valerian, er war mir immer schon im Weg gewesen. Denn er stand unter deinem Schutz", belehrte mich meine Großmutter.
Ungläubig klappte mir die Kinnlade hinunter. Das war nicht ihr Ernst? Valerian stand unter meinem Schutz? Wie war das überhaupt möglich? Skeptisch musterte ich meine Oma. Ich glaubte ihr kein Wort.
„Du weißt das nicht? Na gut, dann lass es mich erklären. Du hast noch eine zweite Fähigkeit. Neben physischer Kontrolle hast du auch die Gabe der Heilung und somit des Schutzes. Da du anscheinend nichts davon wusstest, nähme ich an, dass dein Unterbewusstsein noch diese Fähigkeit steuert. Erinnerst du dich noch an die Streifwunde? Wo du dann nachher im Krankenhaus warst und sich für mich die perfekte Gelegenheit ergeben hat, dich ihr her zurückzubringen? Hast du dich gar nicht gewundert, dass deine Wunde so schnell wieder verheilt ist? Das alle deine Wunden immer ungewöhnlich schnell verheilt sind? Eine lange Zeit wusste ich auch nichts von deiner Gabe. Bis zu dem Tag, an dem ich Valerian manipulieren wollte. Doch es funktionierte nicht. Danach habe ich recherchiert und die einzige Möglichkeit war, dass er unter deinem Schutz stand. Es hört sich unglaublich an, ich weiß, aber das ist die Wahrheit. Ich konnte Valerian nicht gegen dich aufbringen, also habe ich nach einer Lösung gesucht. Somit kam eine fake Bianca ins Spiel. Ich habe mich bezüglich Valerian umgehört und das mit Bianca herausgefunden. Also habe ich mich auf die Suche nach diesem Mädchen gemacht. Ich habe ihr Foto in einem Jahrbuch gesehen. Danach habe ich deine alte Babysittern kontaktiert und ihr einen Job bei mir angeboten. Von Anfang an habe ich sie deinen Eltern empfohlen, damit sie dich für mich überwachen konnte. Sie hat eine Fähigkeit wie du und ich, sie kann Leuten vorgaukeln jemand zu sein, der sie nicht war. Fake Biancas Ziel war Valerian von dir abzuschotten, damit du aufhörst ihm zu schützen. Das funktionierte auch gut. Fast hätte Valerian deinen Schutz verloren, da du dich wegen fake Bianca vernachlässigt gefühlt hast. Doch etwas ging gewaltig schief. Ich weiß nicht genau wie Valerian es geschafft hat, sich aus dem tranceartigen Zustand zu befreien, aber irgendwann hat er sich so sehr gegen deine ehemalige Babysittern aufgelehnt. Das ihr Kraft bei ihm abgeprallt war. Als er dann wieder bei vollem Bewusstsein war, wollte er dich warnen. Damals im Café. Als fake Bianca versucht hat, sich mit dir anzufreunden. Ich wollte eure Freundschaft. So würde es dir viel mehr das Herz brechen, wenn eine Freundin dir Valerian ausspannt. Es hätte dich viel mehr getroffen", erklärte mir meine Großmutter emotionslos.
Das war alles geplant gewesen. Von Anfang an war meine Großmutter das Böse gewesen. Das bedeutete, dass meine Eltern unschuldig waren. Naja, zumindest mein Vater. Warum meine Mutter mir den Eindringling eingepflanzt hat, war immer noch unklar.
Auf einmal fühlte ich mich so unglaublich schwach. Wie konnte mir meine Oma das antun? Was wollte sie damit erreichen? Und die viel wichtigere Frage, warum erzählte sie mir das alles? Ein ungutes Gefühl durchflutete meinen Körper. Was waren ihre wahren Absichten?
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Teufelswerk
Mystery / ThrillerGracie. Ein Mädchen welches nur ein Ziel hat: Nicht gefunden zu werden. Eine grausame Kindheit verbirgt sich hinter der unsicheren, zurückhaltenden Gracie. Sie hat Angst. Jede einzelne Sekunde ihres Lebens. Und das nur, weil sie über eine Fähigkei...