Kapitel 3

656 40 0
                                    

„Ruhe", fuhr die Bibliothekarin genervt zwei junge Mädchen an. Sofort erstarb das Getuschel in einer der Ecken. Valerian hatte es tatsächlich geschafft mich in eine öffentliche Bibliothek einzuladen. Aber wo blieb er jetzt?

Wir hatten uns eigentlich gleich nach dem Ende der letzten Stunde hier verabredet. Natürlich nur um uns ein paar Bücher für unser Referat herauszusuchen. Da unser Geschichtslehrer kein Freund vom Internet war, würden wir es für unseren Vortrag auch nicht verwenden dürfen.

Doch wo war Valerian? Die Bibliothek lag gegenüber der Schule, also konnte er sich auch nicht verlaufen haben. Hatte Valerian auf mich vergessen oder hatte er doch keine Lust auf mich und unser gemeinsames Referat?

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Die Kapuze meiner dünnen Jacke hatte ich mir tief ins Gesicht gezogen. Meine abgedunkelte, große Brille ruhte gleichmäßig auf meiner Nase. Die Ärmel hatte ich über meine bleichen Hände geschoben. Aber noch immer fühlte ich mich nackt.

Hatte der alte Mann am nächstgelegenen Tisch gerade zu mir herüber geschielt? „Oh bitte, bitte tu mir nichts", murmelte ich aufgebracht und verängstigt in mich hinein.

Seine grauen Haare standen schief und in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab. Die Haut des Mannes war runzelig und mit Leberflecken überdeckt. Doch seine blassgrünen Augen machten mir am meisten Angst, denn sie wirkten so unheimlich wachsam.

Ich merkte wie mich die Panik immer mehr übermannte und ich mich immer mehr in die Situation hineinsteigerte. In meinem Kopf spielten sich die schlimmstmöglichen Szenarios ab. Überall sah ich diese Gesichter. Die Gesichter meiner Verfolger. Mit pochendem Herzen zog ich meine Beine Nähe an meinen Körper und rollte mich automatisch etwas ein.

Ich saß auf einem der unzähligen Sofas, welche überall in der Bibliothek verteilt standen und zum Lesen einladen sollten. Vor mir thronte ein dunkler Holztisch auf welchem ich ein paar Bücher über unser Referatsthema getürmt hatte.

Valerian war immer noch nicht aufgetaucht und desto mehr Zeit verging, desto weniger glaubte ich an sein Kommen. Ich spürte wie meine Hände anfingen zu schwitzen und zu zittern. Schnell vergrub ich sie in meinen Jackentaschen. Ein Schwindelgefühl setzte ein und die aufkommende Hoffnungslosigkeit nahm meinem Körper immer mehr in Besitz.

Stürmisch schaute ich mich um. Ich merkte wie meine Umgebung zu verschwimmen drohte. Tränen brannten in meinen Augenwinkeln und ich versuchte mich zu beruhigen, aber die schwarzen, tanzenden Punkte vor meinen Augen vermehrten sich stätig. Mein Herz raste und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Meine Brust schien sich immer mehr zusammen zu ziehen und ich bekam nur noch stoßweise Luft.

Plötzlich wurde ich an der Schulter gepackt. Erschrocken zuckte ich zusammen, wobei ich gerade noch einen Aufschrei unterdrücken konnte. Mein Blick blieb am alten Mann hängen. Mit gerunzelter Stirn hatte er jede meiner Bewegungen aufmerksam mit verfolgt.

„Gracie, ist alles in Ordnung? Du siehst so blass aus. Möchtest du kurz an die frische Luft gehen oder brauchst du ein Glas Wasser?", riss mich eine bekannte Stimme aus meiner aufgekommenen Benommenheit. Valerian. Er war doch gekommen.

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und deutete ihm sich zu setzen. Misstrauisch schaute er mich an. „Geht schon wieder", beharrte ich und schlug eines der Bücher auf um mein Gesicht zu verdecken. Mein Puls normalisierte sich und ich richtete meine Brille, welche sich ein bisschen verschoben hatte.

„Vielleicht wäre es besser, wenn wir das Referat an einem anderen Tag vorbereiten", versuchte ich Valerian davon zu überzeugen, dass wir in der Bibliothek, umgeben von fremden Menschen, nichts verloren hatten.

Zugegeben, ich wollte einfach nur noch nachhause, mich in mein Zimmer zurückziehen, die Vorhänge zuziehen und hoffen, dass mich niemand finden würde. Denn bei meiner Oma war ich sicher. Daran glaubte ich fest.

„Was ist passiert? Ist wirklich alles okay? Du wirkst so verängstigt. Du kannst mir vertrauen und ich schwöre, dass ich es niemanden weitererzählen werde", versicherte mir der Junge, welcher gegenüber mir auf einem der weichen Sofasessel platzgenommen hatte.

Kurz schaute ich mich in der geräumigen Bibliothek um. Sie war mit zahlreichen Bücherregalen und bräunlichen Sitzgelegenheiten ausgestattet. Doch niemand außer dem alten Mann war in Sichtweite.

Die beiden Mädchen waren wohl schon gegangen. Die glücklichen. Wie gerne wäre ich eine von ihnen gewesen. Unwissend und wahrscheinlich ebenso naiv.

„Können wir bitte gehen", flehte ich ihn mittlerweile von der Angst gepackt an. Der ältere Herr hatte wieder zu uns geschaut. Verdächtig. „Ich glaube der Mann dort drüben beobachtete uns."

Verstört sah Valerian zuerst mich und dann den alten Mann an. „Bist du dir sicher? Vielleicht ist er hier, weil er gerne liest", verließen die Worte einige Sekunden später seinen Mund.

Enttäuscht darüber, dass er mir nicht glauben wollte, vergrub ich meine Hände noch tiefer in meinen Jackentaschen. „Na gut, du hast gewonnen. Wir sollten das Referat für heute wirklich bleiben lassen. Du siehst wirklich müde und erschöpft aus", gab Valerian endlich nach.

„Gehen wir", drängte ich schnell, da ich glaubte den alten Mann unheimlich Lächeln gesehen zu haben. Ich sprang sogleich auf und stürmte, ohne auf Valerian zu warten, aus dem Gebäude. Draußen blieb ich wie angewurzelt stehen. Ein eisiger Wind wehte durch die Straßen. Meine dünne Frühlingsjacke war wohl für heute keine gute Kleiderwahl gewesen.

„Da bist du ja, ich dachte schon ich hätte dich verloren. Soll ich dich noch bis nachhause begleiten oder schaffst du das?", fragte mich der Junge außer Atem und mit besorgter Stimme.

Vorsichtig nickte ich zustimmend und murmelte: „Aber nur wenn dir das keine Umstände bereitet." Er verdrehte lächelnd seine Augen und gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Ich versuchte meine Nervosität so gut es ging zu verstecken. Doch ihm schien nichts zu entgehen.

„Willst du mir nicht endlich sagen was das alles soll? Wozu trägst du diese abgedunkelte Brille? Warum vergräbst du dich förmlich in deiner Jacke? Und warum bist du die ganze Zeit auf der Hut? Was ist dein Geheimnis?", stellte Valerian eine Frage nach der anderen, wobei er mich die ganze Zeit über besorgt beobachtet hatte. Ich antwortete nicht und ich war ihm auch keine Erklärung schuldig. Das war ich niemanden.

Er seufzte und startete einen letzten Versuch: „Ich will dir helfen. Hör auf den Schmerz zu verdrängen. Das hilft doch auch nicht. Du musst lernen damit umzugehen und schließlich mit deiner Vergangenheit abzuschließen."

Ich schaute ihn lange von der Seite an. Was sollte ich darauf antworten? Unschlüssig blieb ich stehen. Der Schmerz an meine Vergangenheit kam unerwartet wieder zurück. Mir war nach weinen zumute, aber ich wollte nicht hier vor Valerian weinen. Nicht hier mitten auf dem Gehsteig vor allen Passanten.

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass Valerian mit seiner Aussage recht hatte und ich das Vergangene noch nicht selbst verarbeitet hatte. Selbst wenn ich wollte, ich würde nicht darüber reden können. Die Erinnerung tat noch zu weh.

„Ich kann nicht. Ich kann noch nicht darüber reden", flüsterte ich überfordert und brach mitten am Bürgersteig zusammen. Ich versuchte stark zu bleiben, doch die erste Träne kullerte bereits über meine Wange und ich wusste, dass ich den Kampf verloren hatte. Ich konnte nicht mehr. Das alles war zu viel für mich. Ich spürte wie Valerian sich zu mir nieder hockte und mich schützend in den Arm nahm.

TeufelswerkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt