Kapitel 6

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Ich drehte mich um.

Da blieb mir der Mund offen stehen.

War das Zufall?

Wie war das möglich?

Vor mir stand der Junge. Nicht irgendein Junge, sondern der, der mir einen Zettel mit seiner Telefonnummer in den Hut geworfen hatte. Den Zettel, den ich verloren hatte.

"Hi!", sagte er. Seine Stimme war dunkel. Seine Haare glänzten im grellen Licht des Krankenhauses.

Ich mochte das Krankenhaus nicht. Nein. Ich mochte allgemein keine Krankenhäuser. All diese Menschen, die litten, die Schmerzen hatten.

All diese Menschen, die dort starben.

All diese besorgten Familienmitglieder oder Freunde von den schwerkranken Patienten. Manchmal sah man Leute hier sitzen und sah wie sie weinten.

Und diese krebskranken Kinder. Es gab eine Station mit todkranken Leuten. Leute, die monatelang, manchmal sogar jahrelang im Krankenhaus blieben und nicht gesund wurden.

Leute, die den schlimmen Folgen einer Krankheit oder eines Unfalls ausgeliefert waren.

Deswegen konnte ich Krankenhäuser nicht leiden.

Da traf es mich wie ein Blitzschlag.

Meine Mutter.

Sollte sie überleben und ja, das wird sie, sagte ich mir, dann wird sie die bleibenden Schäden, die durch den Unfall kamen, tragen müssen.

Nichts, absolut nichts, würde wieder normal sein. Wie vorher.

Der Junge riss mich aus meinen Gedanken. "Hallo?"

Ich schreckte auf. "Oh, hi!" Ich lächelte ihn an. "Ich habe dich schonmal gesehen."

"Ja", sagte er etwas misstrauisch. Wahrscheinlich weil er mir seine Nummer gegeben hatte und ich nicht darauf reagiert hatte. Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich hatte seine Nummer ja verloren!

"Ähm. Das ist jetzt eine komische Frage, aer bist du der, der mir einen Zettel mit deiner Nummer in den Hut geworfen hat? In der Stadt? Wo ich gesungen habe?", fragte ich ihn vorsichtig, denn auf einmal war ich mir der ganzen Sache nicht mehr so sicher.

"Äh, ja. Das war ich."

Wir schwiegen und ich beschloss nicht, die Stille zu unterbrechen.

"Warum hast du dich nicht gemeldet? Oder mir wenigstens geschrieben? Ich weiß ja, dass es eine dumme Idee war, dir meine Nummer zu geben. Du kennst mich nicht. Ich kenne dich nicht."

Also sagte ich ihm die Wahrheit. "Ich weiß nicht, was ich mit deiner Nummer angefangen hätte, wenn ich sie nicht verloren hätte. Auf dem Weg nachhause muss sie mir aus der Tasche gefallen sein. Sonst hätte ich dir vielleicht geschrieben."

"Achso." Auch er schien unsicher zu sein. "Soll das heißen, dass jetzt ein Fremder meine Nummer auf der Straße finden könnte und damit alles anfangen könnte?", scherzte er. Anscheinend hatte er doch Sinn für Humor. Anfangs dachte ich, er wär eher ernst. Aber ich fand trotzdem, dass er irgendwie etwas Mysteriöses an sich hatte.

"Ja, so ist es. Jeder könnte deine Nummer finden." Ich lachte. Und als er auch lachte, war ich erleichtert, dass er es locker genommen hatte.

"Darf ich fragen, warum du sie mir gegeben hast?", fragte ich ihn, denn ich war neugierig.

"Naja, ich bin an dir vorbeigegangen und habe gehört, wie du gesungen hast. Und du hast echt eine tolle Stimme. Und ja, irgendwie fand ich dich ganz..." Es schien mir, als würde er nach dem richtigen Wort suchen.

"Ja, ich fand dich ganz nett. Und deswegen hab ich dir meine Nummer gegeben."

"Okay", brachte ich heraus. Diese Wortwahl. 'Ganz nett.' Mir wurde klar, dass er nichts überstürzen wollte, was eigentlich auch etwas Gutes war.

Ich musterte ihn. Er hatte dunkelbraune Augen, gebräunte Haut. Er trug ein Schwarzes Shirt mit blauen Jeans.

Da fiel mir wieder der Tee ein und ich drehte mich von ihm weg, um einen Teebeutel in meine Tasse zu legen.

"Wieso bist du eigentlich hier?", fragte ich ihn, um die Konversation weiterzuführen und er stellte sich neben mich.

Er zögerte nicht mit seiner Antwort. "Meine Oma ist schwerkrank." Mir fiel der ernste Tonfall auf und ich wusste doch, dass es ihm schwerfiel, mir das zu sagen. Es tat ihm weh. Auch wenn man es ihm nicht ansah, wusste ich es.

"Oh, das tut mir leid." Und ich meinte es auch so.

"Sie wird..." Er stockte. "Nicht wieder gesund werden."

"Heißt das?" Ich traute mich nicht, es laut auszusprechen. Ich schaute ihm kurz in die Augen und dann auf den Boden.

Aber Gott sei Dank musste ich nicht weitersprechen, denn er wusste, was ich meinte. "Ja. Sie wird sterben."

Wir schwiegen und ich vergaß, mir das heiße Wasser in die Tasse zu gießen.

Ich brachte kein Wort heraus. Was sollte ich denn dazu sagen?

Als die Stille dann unangenehm wurde, goss ich mir letzten Endes das heiße Wasser in die Tasse. Er nahm sie auch eine Tasse und ließ einen Teebeutel hineingleiten. Ich las: Kräutertee.

"Soll ich dir Wasser eingießen?", fragte ich, um freundlich zu wirken. "Da ist noch Etwas drin."

"Ja, gerne." Er hielt seine Tasse hin und ich goss ihm das Wasser ein.

Danach zog er seinen Arm zurück und ließ die freie Hand in seiner Hosentasche verschwinden. Ein Zeichen von Unsicherheit.

"Und wieso bist du hier?", fragte er. Wir gingen wieder in den Flur, um uns dort auf die Stühle zu setzen.

Ich konnte nicht anders. Tränen traten mir in die Augen und kurz darauf schluchzte ich. Er näherte sich mir und nahm mich in den Arm. Und in diesem Moment fühlte ich mich geborgen.

"Es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen."

"Doch, es ist schon okay. Meine Mutter." Ich stockte. "Sie, sie hatte einen Unfall und ich weiß nicht, ob sie es schaffen wird. Wenn du weißt, was ich meine. Ich habe Angst, dass..." Er umarmte mich immer noch.

"Ich verstehe, was du meinst. Ich hoffe, dass sie es schaffen wird."

"Sie ist gerade in der OP. Und es dauert schon so lange." Ich schaute kurz hoch zur Uhr. "Es dauert schon dreieinhalb Stunden und ich kann mir nicht erklären, wieso die Ärzte so lange brauchen."

Es war kein UnfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt