Kapitel 2

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Victors pov.

Die Tage können sich wie Kaugummi ziehen, wenn man etwas sehnsüchtig erwartet. Doch endlich ist es soweit. Heute werde ich Aiden wieder treffen, aber ich sollte mir lieber keine Hoffnungen machen, dass er überhaupt kommt. Wer würde schon für jemanden wie mich kommen, einen blinden Jungen. Seufzend stoße ich die Tür zum Schulgebäude auf. Von hier aus sind es genau 15 Schritte bis zu Tanzraum eins. Also zähle ich und drehe mich dann nach links, wenn ich jetzt die Hand ausstrecke müsste sie genau, dass kalte Metall der Türklinge treffen. Tatsächlich streichen meine klammen Fingerspitzen über die Klinke und ich drück sie erleichtert herunter.

Wie aus Gewohnheit taste ich nach dem Lichtschalter rechts neben der Tür, auch wenn kein Licht die Dunkelheit vor meinem Augen lindern könnte. Mit leichten Schritten durchquere ich den Raum und stelle meinen Rucksack genau unter dem Fenster ab. Ich weiß, dass dort ein Fenster ist, da ich mir regelmäßig am Sims den Kopf stoße. "Handy spiel Playlist 5." sage ich und lege das Telefon auf dem Fensterbrett ab. Da ich ziemlich früh bin und Aiden bestimmt noch Training hat, falls er überhaupt kommt, beschließe ich etwas zu tanzen.

Auch wenn ich mich nie wieder beim Tanzen sehen kann, meinte meine alte Tanzlehrerin immer, ich würde Menschen verzaubern wenn ich tanze oder Klavier spiele. Für einen Moment wäre, die Welt dieser Menschen wieder heil und auch wenn meine Welt vor zwei Jahren auseinander gebrochen ist, so werde ich weiter tanzen und spielen, um anderen damit Hoffnung zu geben, denn solange die Menschen etwas haben für das sie hoffen können und was sie zum Träumen bringt, so ist die Welt für diese Menschen nicht ganz so dunkel.

Plötzlich öffnet sich in meinem Rücken leise die Tür und ich höre, wie Aiden mit sanften Schritten in den Raum tritt, das Rascheln seiner Kleidung verrät, dass er sanft an der Wand hinabrutscht und mir vermutlich zusieht. Allerdings verursachen die wirbelnden Gedanken in meinem Kopf, bei mir ein Schwindelgefühl. Was nur noch stärker, durch die Freude seines Erscheinens ist. Stumm schicke ich Stoßgebete zum Himmel, dass mein Kreislauf mich jetzt Mal ausnahmsweise nicht im Stich lassen würde. Doch das Klingeln in meinen Ohren verrät mir, dass mein Körper beschlossen hat mein Bitten zu ignorieren, würden meine Augen noch funktionieren, würde meine Sicht vermutlich gerade zunehmend verschwimmen.

Gerade als das Lied endet und ich etwas wacklig zum Stehen komme, geben meine Knie unter mir nach und ich knalle auf den Parkettboden. Da wir leider in keinem romantischen Film sind, die meine Schwester so sehr liebt, schafft Aiden es nicht mich aufzufangen. Doch er ist bereits an meiner Seite, als ich benommen versuche mich aufzurappeln. "Victor?" Die Sorge, die in seiner Stimme liegt, als er meinen Namen das erste Mal ausspricht, lässt mich erzittern und eine Gänsehaut bekommen. Okay, letzteres könnte auch daran liegen, dass mir auf einmal total kalt ist. "Hey, alles okay. Der Sturz sah ganz schön heftig aus." fragt er besorgt und legt mir eine seiner warmen Hände auf die Stirn. "Ja, alles okay. Ich konnte mich ganz gut abfangen. Nur mein Handgelenk scheint ein bisschen was abbekommen zu haben." erwidere ich mit zitternder Stimme und versuche den stechenden Schmerz zu ignorieren, der sich von meinem linken Handgelenk über meinen ganzen Körper ausbreitet.

"Du siehst nicht so aus, als wäre alles okay." erwidert Aiden sanft und streicht über mein linkes Handgelenk. Ich beiße mir auf die Lippe um nicht leise aufzuschreien. "Da ich meinen Teil der Aufgabe erfüllt habe und deinen Namen rausgefunden habe, erweist du mir die Ehre, dass ich dich nach Hause oder zum Arzt bringen darf." fährt er fort und ich seufze. "Dann lieber nach Hause." entscheide ich. Momentan will ich nichts lieber als mich hinlegen und schlafen. "Okay. Meinst du, du kannst aufstehen?" fragt er sanft und ich nicke trotzig, auch wenn wir beide wissen, dass ich in meinem Zustand nicht alleine stehen kann. Innerlich verfluche ich meinen Kreislauf, als ich mit Aidens Hilfe aufstehe und mir einen Arm um die Taille legt. Zu gerne würde ich ihm gerade in die Augen sehen, was in ihnen wohl zu lesen wäre.

"Bist du dir wirklich sicher, dass du nicht zum Arzt willst?" fragt Aiden und die Sorge in seiner Stimme verrät mir genauso viel, wie es ein Blick in sein Gesicht getan hätte, seit zwei Jahren ist er der erste, außer meiner Schwester, der sich aufrichtig um mich sorgt, wenn auch vielleicht nur aus Mitleid. "Ja, alles gut. Mir ist nur etwas schwindelig." erwidere ich sanft. Verdammt seit wann sind die 15 Schritte durch die Schule so lang? "Okay, wir haben es fast zu meinem Auto geschafft." sagt er und zieht mich vorsichtig näher an seine Seite, wodurch er noch mehr meines Körpergewichts abstützt.

Wie wir zu seinem Auto gekommen sind und das ich ihm meine Adresse sage, verschwimmt in meinen Erinnerungen, das nächste an das ich mich dunkel von diesem Abend erinnere ist, dass Aiden sanft die Beifahrertür öffnet und mir aus dem Auto und den Kiesweg hoch zum keinen Haus, dass ich mit meiner Schwester bewohne, hilft. "Warte, wo sind mein Rucksack und mein Handy?" frage ich geschockt und meine Knie geben fast wieder unter mir nach. "Kein Angst. Ich hab beides eingesammelt und mitgenommen." antwortet Aiden, während er seinen Griff um mich verstärkt, damit ich ihm nicht auf die zweistufige Treppe vorm Haus knalle, während er meinen Schlüssel aus dem Rucksack fummelt und mir in den Flur hilft, wo ich mich dankbar an die nächste Wand lehne.

"Entsperrst du mir Mal dein Handy. Ich will dir meine Nummer eintippen?" fragt er und ich tue worum er mich gebeten hat. Während er auf dem Handy rum tippt, ziehe ich mir Jacke und Schuhe aus und stelle erleichtert fest, dass der Schmerz in meinem Handgelenk endlich etwas nachgelassen hat. "So fertig." reißt mich Aiden aus meinen Gedanken. "Soll ich dir noch in dein Zimmer helfen?" fragt er, als er mir mein Handy wieder in die Hand drückt. "Nein, alles gut. Von hier komm ich allein zurecht." erwidere ich und er wuschelt mir sanft durchs Haar, bevor er aus der Tür geht und sie hinter sich ins Schloss zieht.

Noch immer etwas wacklig auf den Beinen laufe ich mit einer Hand an der Wand den Gang zu meinem Zimmer entlang und lasse mich erschöpft auf mein Bett fallen. Erschöpft ziehe ich die Decke über mich und versuche das schnelle Klopfen meines Herzens zu ignorieren. Ich werde mich nicht verlieben, nein schon gar nicht in jemanden, der sich niemals für mich interessieren könnte, der nur Mitleid mit mir hat und trotzdem kann ich mich dem kleinen Funken Hoffnung nicht verwehren, ihn besser kennenzulernen.

Blind loveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt