Die Worte lasteten auf ihm.
"Ich habe doch bloß eine Nacht in diesem verfluchten Haus verbracht!", wehrte er sich entrüstet. "Wieso ist mein Leben bereits in Gefahr?!"
Karina sah ihn gütig an. "Sie wurden wirklich ins kalte Wasser geworfen, nicht wahr?"
Graham verschränkte trotzig die Arme. "Für all das hier habe ich mich nicht angemeldet! Je mehr Zeit vergeht, umso weniger glaube ich zu verstehen."
Die alte Frau nickte verständnisvoll. "Das glaube ich Ihnen gerne. Sparen Sie sich Ihre Kraft für die Operation. Wenn wir ihren Geist erst geflickt haben, können Sie sich gerne alles von der Seele meckern.", bot sie ihm an.
Grahams genervter Gesichtsausdruck entspannte sich allmählich. "Das wäre hervorragend."Er straffte den Rücken, hob die Arme leicht an und schloss die Augen.
Karina nickte. Ihr Lächeln erstarb und in dem entspannten Gesicht erkannte er erstmals die glühenden, großen Augen.
Sie hob die große Nadel und führte sie zu einer der vielen schwarzen Wunden, die sich auf dem bläulich durchscheinenden Körper verteilten.
Als die Nadel den Wundrand berührte und eindrang, sprühten dunkle Funken wie aus einer Fontäne und Graham schrie.
Der Schmerz durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag, der von seiner Brust ausging und sich in alle Richtungen zog.
Er wand und krümmte sich, doch eine simple Handgeste von Karina zwang seinen Geist in die Starre. Mit ausgestreckten Armen und Beinen hing er in der Luft unfähig jeder Bewegung. Ihm blieb nichts anderes, als in die grüne Ferne zu starren und zu leiden.
Mit jedem Stich explodierten Empfindungen, Erinnerungen und Ideen wie Feuerwerke in ihm. Sie zerfielen, zerbrachen, verformten sich und auf dem Grund seines Bewusstseins häuften sie sich zu einem Berg aus Scherben.
Karina arbeitete sehr geschickt.. Die weit aufgerissenen Augen verfolgten die Nadelspitze. Sie schaffte es, die kleinsten Wunden innerhalb von wenigen Minuten zu vernähen.
Für die größeren allerdings, benötigte sie Stunden.
Dabei war eine Sekunde bereits mehr, als er zu ertragen bereit war.Nach insgesamt 8 Stunden, das wusste er, denn er hatte jede Sekunde gezählt, fühlte er sich tot. Die Fähigkeit zu zählen hatte er retten können, doch der Rest verschwand. Er wusste nicht mehr, wer er war, was er hier machte und war unglaublich verwirrt darüber, als der Schmerz plötzlich aufgehört hatte, denn für Graham war es der erste Moment ohne ihn.
Karina klopfte sich den metaphorischen Staub von den Händen und bestaunte ihr vollendetes Werk stolz.
Sie bannte den Fluch, den sie dem erschöpften Geist auferlegt hatte. Augenblicklich sackte Graham in sich zusammen und hing wie an einer Schnur in der Luft. Aus leeren Augen starrte er vor sich hin. Er hätte gerne gesprochen, doch er hatte vergessen, wie das ging.
"Nun zum letzten Akt.", murmelte Karina, verstaute die Nadel und die Phiole in ihrer Tasche und kramte ein größeres Tongefäß hervor.
Sie öffnete das Gefäß und griff eine Hand voll feinem Pulver. Unverständlich intonierte sie fremde Worte und warf das blaue Pulver dem Geist entgegen. Das Pulver legte sich über die zugenähten Wunden und zog in das feinstoffliche Gewebe ein.
Graham riss die Augen auf.
Der Scherbenhaufen, der ihn einst ausgemacht hatte, wirbelte auf. Die Fragmente fanden sich zusammen, organisierten sich und setzten sich dann wieder zusammen, genau dort, wo sie von Anfang an hätten sein müssen.
Eine Woge der Euphorie durchfuhr ihn währenddessen. Das Gefühl war beinahe schwindelerregend.
So schnell das Gefühl eingesetzt hatte, verebbte es wieder und ließ ihn zu Ruhe kommen. Erleichtert atmete er durch.
"Unglaublich.", seufzte er und lächelte. "Ich fühle mich endlich wieder, wie Ich selbst."
"Das sind Sie allerdings noch nicht ganz.", widersprach Karina.
Sie packte den Knöchel des Geistes und mit viel mehr Kraft, als er einer so alten Frau zugetraut hätte, wuchtete sie den Geist zurück in seinen Körper.
Ruckartig setzte Graham sich auf und schnappte nach Luft. In seinem Körper fühlte es sich so ungewohnt nass und weich an, dass er seinen Körper am liebsten direkt wieder verlassen hätte, doch das Gefühl ließ glücklicherweise recht schnell nach.
Er hob seine Hände und kontrollierte, ob noch alles an seinem Platz war.
Karina wartete geduldig neben ihm. "Nun sind Sie wieder Sie selbst."
Graham sah sie an und lächelte. "Vielen Dank."
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Die wundervolle Welt des Graham Jones
ParanormalGraham Jones war ein ganz normaler Mensch. Er war sogar ganz gerne normal. Doch als er die Kontrolle über sein Leben verliert, findet er sich in einer Welt wieder, die alles andere als normal ist. 29.04.2019 | #16 - 'Alltag'