Hallo, ihr Lieben! Heute gibt's wieder ein längeres Kapitel ;-)
Danke auch wieder für eurer Interesse an meiner Story und euren Support! Ich hoffe, ihr habt wieder viel Spaß beim Lesen~
________________________Die Medaille liegt schwer in seiner Hand. Wie ein alter Orden, der Timo für etwas auszeichnet, an das er sich nicht mehr erinnern kann. Es ist so viel passiert an der Kriegsfront in seinem Kopf. Tag und Nacht kämpft und ringt er mit sich selbst. Dass er einst meisterhafte Manöver vollführt hat, erscheint Timo mittlerweile völlig abwegig. Er ist nicht mehr der Mensch, der diese Medaille gewonnen hat und er weiß auch nicht, wo er noch nach diesem Menschen suchen soll...
Mit dem Daumen seiner rechten Hand streicht er langsam vom Rand aus über die Gravuren zur Mitte hin; die Medaille lacht ihn kühl an. Hält kein Mitleid und keinen Masterplan für ihn bereit. Im Zimmer dominiert das stechend helle Licht der Deckenlampe, draußen auf dem Gang ist es still und vor dem Fenster tobt sich ein tollkühner Herbstwind aus. Unterrichts- und Trainingszeiten sind für heute vorbei und die Internatsschüler sind entweder mit ihren Hausaufgaben beschäftigt oder in andere Freizeitaktivitäten abgetaucht. Timo kann sich zu nichts von all dem aufraffen. Er scheint hier zunehmend weniger lebensfähig zu sein.
Gehört er überhaupt noch aufs Sportinternat?
Alles in ihm schreit lauthals NEIN! Nur die Sehnsucht nach der guten, alten Zeit lässt ihn an den Erinnerungen festhalten. Er will nicht weg. Er muss alles daran setzen, um hier zu bleiben!
Er will nur noch weg. Ganz weit weg, denn es ist ihm furchtbar peinlich, immer und immer wieder vor den Augen seiner Freunde und Lehrer zu versagen. Sie kennen ihn schon so lang und sollen ihn nicht am Boden sehen. Timo erträgt die Schande einfach nicht. Sie liegt wie flüssiges Blei in seinem Magen und vergiftet ihn...
Die Zimmertüre schwingt auf und Nick kommt herein. Die beiden Freunde begrüßen sich mit einem kurzen „Hey". Während Nick seine Übergangsjacke abstreift und sich anschließend samt seinem Rucksack auf sein Bett plumpsen lässt, lässt Timo die Medaille in seinem Nachttisch verschwinden und nimmt sein Handy zur Hand, damit es nicht den Anschein macht, als würde er melancholisch Löcher in die Luft starren.
Von Nicks Bett aus ertönt das Ratschen eines Reißverschlusses, dann das laute Knistern einer Plastiktüte.
„Willst du?", hält Nick Timo einladend eine Chipstüte entgegen.„Nee, kein' Hunger."
Wann hat er offiziell schon noch Hunger? Nie!Inoffiziell sieht die Sache natürlich komplett anders aus, aber das würde Timo nie zugeben. Er will nicht auch noch zu schwach wirken, um sein Gewicht und sein Essverhalten zu kontrollieren. Für andere Sportler ist das schließlich auch ein Kinderspiel, also muss Timo es ebenfalls schaffen!
Der Ablenkung halber klickt er sich durch die neuen Benachrichtigungen auf seinem Handy, woraufhin sich Instagram öffnet und Timo sieht, dass Viktor ihn auf einem gemeinsamen Foto markiert hat, das nach dem gestrigen Training auf dem Rückweg ins Internat entstanden ist. Es ist kein sonderlich schmeichelhaftes Foto von ihm, wie Timo findet. Zwar macht er zumindest den Versuch, in die Kamera zu lächeln, aber bei dem Versuch ist es auch geblieben. Wer genauer hinschaut, dem fällt auf, wie verbissen Timos gesamte Miene wirkt. Beinahe so, als bemühe er sich, mit der bloßen Kraft seiner Gedanken eine viel zu schwere Last zu stemmen. In seinen Augen liegt kein Ausdruck, kein Leuchten, nur Abgeschlagenheit, wohingegen Viktor leicht schmunzelt. Auch er sieht ein wenig geschafft aus vom Training, doch seine Ausstrahlung unterscheidet sich grundlegend von Timos. Hier ist jemand glücklich.
Timo kann sich nur noch verklärt an den Moment erinnern, als Viktor sein Smartphone in Position gebracht und sich dezent zu Timo hinüber gelehnt hat. Der charakteristische Klick-Laut einer Handykamera ertönte und Timo hat sich nichts weiter dabei gedacht. Vielleicht hat er kurz gebrummt und damit bei Viktor ein feixendes Grinsen provoziert. Im Grunde war es Timo jedoch egal. Es zückt doch eh ständig irgendjemand sein Handy und macht Schnappschüsse. Die meisten landen im virtuellen Müll. Exakt aus diesem Grund hat Timo auch bis gerade eben angenommen, das Foto von gestern sei längst Geschichte. Stattdessen hat Viktor es auf seinem Instagram-Profil mit der ganzen Welt geteilt. Sein Kommentar zum Bild besteht aus drei Emojis: flexed biceps, thumbs up und big grin. Als wäre das Training ein voller Erfolg gewesen.
Nun, für Viktor war es das ja auch. Timo indes kann nur noch davon träumen, so gut zu performen wie sein Freund. Dabei hat Timo unverkennbar Gewicht verloren. Das Foto macht es erschreckend deutlich. Sein Gesicht ist wesentlich markanter als noch vor Kurzem und seine Schlüsselbeine sind zwei spitze Knochen, die aggressiv unter dem Kragen seines weißen T-Shirts hervorragen. Mit seinen Rippen verhält es sich ähnlich, nur dass sie niemand zu Gesicht bekommt. Die Muskeln, die Timos Bauch und Oberkörper einst umschmeichelt haben, haben sich zurückgebildet. Früher, da hätte Timo das bedauert, da war ihm sein Six-Pack wichtig. Doch Muskeln sind schwerer als Fett und Timo will von nichts mehr ausgebremst werden. Wenn er möchte, kann er seinen Trainingsfokus ja wieder verlagern, sobald seine Sprintzeiten sich verbessert haben. Gar kein Problem. Vorerst hat für ihn Abnehmen aber die oberste Priorität.
Um Fragen oder Kommentare zu seinem Äußeren gar nicht erst aufkommen zu lassen, vermeidet Timo es seit den Sommerferien tunlichst, sich vor den Augen anderer umzuziehen. Die Trainingsklamotten zieht er meist schon im Internat an oder in einem unbeobachteten Moment in der Umkleide. Zum Duschen nach dem Training wählt er ebenfalls die Einzelkabinen im Internat und erspart sich so die Gemeinschaftsdusche auf dem nahe gelegenen Trainingsgelände.
Die Waage beugt sich nur langsam Timos Willen, doch sie tut es. Er hat sich in den letzten Wochen von vier weiteren Kilos befreit. Nichtsdestotrotz fühlt sich Timo noch immer wie ein unförmiger, unzulänglicher Versager. Garantiert wird es nicht mehr lange dauern, bis Viktor, der schnellste Läufer der Schule, erkennt, dass er sich nicht mit einem Verlierer wie Timo abgeben muss und dann wird er sämtliche Fotos von ihnen von seinem Instagram-Profil verbannen. Die Vorstellung sengt sich wie ein Brandfleck in Timos Herz und drückt ihm die Luft ab. Er wird irgendwann ganz allein dastehen und es wird seine eigene Schuld sein...
„Sag mal", zwängt sich Nicks argwöhnische Stimme in Timos Gedanken und eliminiert alles, was Timo gerade gefühlt und gedacht hat. „Hast du eigentlich noch mehr abgenommen?"
„Ich?"
„Nein, der Weihnachtsmann! Natürlich du!"
„Ähm, nee. Hab nur mehr trainiert in letzter Zeit."
Einen unbestimmten Moment lang sagt Nick gar nichts.
„Stimmt, wenn du nicht gerade Training hast oder im Trainingsraum schwitzt, bist du joggen. Das ist schon echt krass, wie viel du machst!", meint er dann und schiebt sich, den Blick noch immer schwer auf Timo ruhend, einen weiteren Kartoffelchip in den Mund.
Timo weiß nicht, was er dazu sagen oder wie er Nicks Verhalten auffassen soll. Auf eine schwer zu beschreibende Art fühlt er sich verängstigt und...bedroht. So als wäre Nick ihm auf die Schliche gekommen. Das ist er doch nicht, oder? Panik lässt Timos Adrenalinspiegel in die Höhe schnellen und ihn wie von der Tarantel gestochen vom Bett aufspringen.
„Muss eben topfit sein für die anstehenden Jugendmeisterschaften", rechtfertigt er sich, steht gleich darauf direkt vor Nick und greift tief in die Chipstüte. „Aber von Chips konnt' ich noch nie die Finger lassen, vor allem nicht von der Sorte! Weißt du ja." Timo lacht kurz, scheinbar sorglos. Es ist tatsächlich seine Lieblingssorte. Das kann kein Zufall sein! Sein Herz rast wie verrückt bei dem Gedanken. Seine Hand führt einen Chip zum Mund und stoppt dann mitten in der Bewegung:
„Gibt aber auch gleich Abendessen, also hauen wir mal besser nicht so rein. Ich muss eh noch schnell rüber was klären. Laber-Rike hat mich heute Morgen wegen irgendeinem komischen Portrait für die Schülerzeitung zugetextet, aber das kann die knicken. Bis später!"Einen Chip im Mund und die Hand noch voll, verlässt Timo nahezu fluchtartig das Zimmer, hastet über den Flur und spuckt seinen Mundinhalt ins Klo, kaum dass er die Kabinentür hinter sich zugeschmissen hat. Der würzige Geschmack ist dermaßen aufdringlich, dass Timo eine Gänsehaut bekommt und sich angewidert schüttelt.
Wann hat er eigentlich zuletzt Chips gegessen?
Es fällt ihm beim besten Willen nicht ein und sein Hunger tobt wie ein unerzogenes Kleinkind, das mitten im Supermarkt steht und seinen Eltern eine Szene macht, weil es unbedingt Chips haben will. Es gibt aber keine, entscheidet Timo strikt und wirft auch noch die restlichen Chips hasserfüllt in die Toilette. Nachdem er abspült hat, verlässt er die Kabine und wäscht sich ausgiebig die Hände. Im Spiegel über dem Waschbecken findet er die Bestätigung dafür, dass es goldrichtig war, was er gerade getan hat. Vermutlich hat Viktor irgendeinen Filter benutzt, bevor er das Foto gepostet hat, denn Timos Ebenbild im Glas hat rein gar nichts mit dem dünnen Jugendlichen gemeinsam, den Timo eben gesehen hat. In Wirklichkeit sieht Timo aus wie das Michelin-Männchen: Er ist fett und blass und schlecht und muss sich mehr anstrengen!Wenn er doch nur nicht so erschöpft wäre...
DU LIEST GERADE
Thin for the Win [Schloss Einstein FF]
FanfictionTimo kann die Angst vielleicht nicht direkt loswerden, aber Gewicht, das kann er verlieren. Und wenn er erst mal leichter ist, wird er garantiert auch wieder schneller laufen können... [Timo x Viktor | Die Geschichte beschäftigt sich mit Timos "Tief...