Alles wird wieder gut. Ganz bestimmt.

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Er wird es nie wieder tun. Fortan wird er die Kontrolle behalten. Timo schwört es sich, als er am nächsten Morgen enorme Schwierigkeiten hat, sich überhaupt im Bett aufzusetzen. Nachdem er sich vergangene Nacht rund eine halbe Stunde übergeben hat, ist er mit Magen- und Kopfschmerzen ins Bett zurückgewankt. Dort hat ihn der Schlaf sofort übermannt und in eine betäubende Tiefe gezogen, die erst vor wenigen Minuten brutal vom Weckerklingeln zerschmettert wurde.

Timo fühlt sich total benommen. So, als seien die Geschehnisse der letzten Nacht nur ein böser Traum gewesen, aus dem er erwachen musste. Sein malträtierter Körper belehrt ihn jedoch eines Besseren. Schwindel lässt ihn leichenblass auf der Bettkante ausharren, während Till und Nick bereits auf den Beinen sind und frische Klamotten sowie Duschzeug aus ihren Schränken kramen. Aus Nicks Handy schallt ein ordentlicher wake-up Beat, durchs Fenster blitzt kräftig die Morgensonne.

„Du hast auch schon mal frischer ausgesehen, Alter", witzelt Till im Vorbeigehen, ehe er einen geradezu drohenden Tonfall anschlägt. „Wirst aber nicht krank, oder?"

„Nee, nur schlecht geschlafen."

„Gut", sagt Till kühl und lässt Timo bewusst in dem Wissen zurück, dass sie keine krankheitsbedingten Trainingsausfälle gebrauchen können.

Timo kann nicht anders, als sich über die müde Augenpartie zu reiben und weiter darauf zu warten, dass sein Kreislauf endlich in Schwung kommt. Er müsste etwas trinken. Höchstwahrscheinlich ist er vom Erbrechen dehydriert, aber die Wasserflasche neben seinem Bett ist so gut wie leer und Timo hat letzte Nacht vergessen, sich neues Wasser mit aufs Zimmer zu nehmen. Er hat in seiner Panik gar nicht mehr klar denken können und auch jetzt kommt es ihm noch total surreal vor, was er getan hat. Kotzen gehen. So was macht man doch nicht. Und er schon mal gar nicht! Für üblich rechnet er haarklein aus, was er zu sich nimmt und achtet penibel darauf, es auch ja wieder durch Sport zu verbrennen. In den letzten Wochen hat er die täglich zugeführte Kalorienmenge reduziert und durch den Sport ein zusätzliches Defizit geschaffen. Weniger zu sich nehmen als man verbraucht, lautet ja nun mal die Zauberformel, wenn man abnehmen möchte.

„Alles klar bei dir?", wird Timo in seinen Gedanken unterbrochen. Er und Nick sind alleine im Zimmer, wie Timo auffällt, als er den Blick kurz schweifen lässt.

„Klar", lügt er wie aus der Pistole geschossen. Für Timo ist Lügen längst zur Gewohnheit geworden, damit keiner merkt, wie tief sich die Zweifel in ihn gefressen haben. Damit keiner sieht, dass seine Gefühle ein Wechselbad aus purer Angst, tiefer Bedrücktheit und erstickender Traurigkeit sind. Er kann sich nicht mal mehr daran erinnern, wann er zuletzt von Herzen gelacht hat. Doch im Laufe der letzten zwei, drei Monate ist irgendetwas mit ihm passiert. Die Panik, das Herzrasen, die Grube der Furcht, in die er gestürzt ist und aus der er seither vergeblich rauszuklettern versucht... All das ist mittlerweile sein Leben. Früher hätte er sich nie träumen lassen, dass es je so weit kommen könnte. Wenn nur alles wieder wie früher wäre...

Nick legt kritisch den Kopf schief.
„Sicher?"

Nein. Und für den Bruchteil einer Sekunde ist Timo versucht, seinem Freund zu erzählen, was los ist. Nur weiß Timo gar nicht, wo und wie er anfangen soll. Nicken ist hingegen einfach. Also nickt er.
„Ja, mein Kreislauf spinnt in letzter Zeit halt gern mal. Wachstumsphase, schätz ich."

„Ah. Na das kennen wir alle." Nick hat die Ausrede hörbar geschluckt. „Bleib am besten noch 'n Moment sitzen und wenn's nicht besser wird: Leg dich wieder hin. Ist doch eh die letzte Woche vor den Ferien. Da verpasst du echt nix mehr."

Nick hat Recht. Seine Worte sind wie ein Freifahrtschein, auf den Timos müde Seele sehnlichst gewartet hat. Kommende Woche beginnen endlich die Sommerferien und er wird nach Hause fahren. Sechs Wochen kein Internat, keine Schule, kein Training – oder zumindest kein offizielles Training. Natürlich sind sie alle angehalten, auch in den Ferien zu trainieren. Bislang hatte Timo auch nie ein Problem damit. Im Grunde liebt er den Sport, die Bewegung und die ganze Energie, die dabei in ihm freigesetzt wird und ihn vorwärts treibt. Vielleicht muss er sich nur mal ordentlich ausruhen in den Ferien und das Pensum runterschrauben und dann kann er mit Beginn des nächsten Schuljahres wieder richtig Gas geben. Ja, bestimmt wird es ihm nach den Ferien wieder besser gehen. Ob etwas an dem Gerücht dran ist, dass seine Schule ab dem nächsten Schuljahr mit einer anderen zusammengelegt wird, ist ihm einerlei. Da es sich bei der anderen Schule nicht um ein Sportinternat handelt, muss er sich wohl keine Sorgen um neue Konkurrenz machen. Er muss sich einfach nur wieder voll auf sich selbst konzentrieren, seine Leistung in den Griff kriegen, wieder richtig schlafen, weniger Trübsal blasen, noch ein bisschen abnehmen und wieder lernen, tief durchzuatmen.

Thin for the Win [Schloss Einstein FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt