Nichts weiter als Hass

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Er hasst es.

Er hasst das ihn aufreibende Hungern, die ewigen Lügen und das ständige Aufpassen, dass auch ja niemand etwas merkt. Außerdem hasst er die missgünstige Waage, die beliebig mit seiner Hoffnung spielt, und das Blei in seinen Füßen, das er einfach nicht los wird. Und dann sind da auch noch das abartige Fressen und Kotzen, die Timo ebenfalls abgrundtief hasst und von denen ihm so schwindelig ist, dass er sich mit einer Hand an der Wand abstützen muss, als er nun langsam über den nachtgefluteten Flur watet und sich zusammengeknülltes Toilettenpapier unter die noch leicht blutende Nase hält. Es ist das erste Mal, dass er nach dem Erbrechen Nasenbluten bekommen hat. Schlimm ist das bestimmt nicht, versucht er sich einzureden, während sich sein Kopf anfühlt, als würde er jeden Moment platzen. Der Schmerz hängt zerstörerisch hinter Timos Stirn und reicht bis tief in seine Brust hinab, wo sein rasendes Herz hilflos zuckt. Timo will nur noch zurück ins Bett und nie, nie wieder essen, hungern, fressen oder kotzen müssen. Es soll einfach alles aufhören. Bitte. Er ist so fucking fertig, er könnte 100 Jahre lang durchschlafen und wäre danach immer noch müde. Sein einziger Trost ist gerade, dass ihn nur noch wenige Meter von seinem Bett trennen. Dann hat er immerhin noch fast vier Stunden Ruhe, bevor der Wecker kräht und Herr Hauser alle Sportler Trepp auf und Trepp ab hetzt.


Im faden Mondlicht, das durch die Flurfenster sickert, kann Timo bereits die Tür zum TNT-Zimmer erkennen. Seine Nase blutet so gut wie nicht mehr, doch noch ehe er imstande ist, das Papierknäuel verschwinden zu lassen, öffnet sich plötzlich die Zimmertüre. Timo ist starr vor Schreck, als jemand mit Handy in der Hand auf den Flur hinaustritt. Schmal gebaut, wirre Haare, etwas kleiner als Timo.
Es ist Till.
Till, der schlaftrunken die Tür hinter sich zuzieht, den Blick langsam hebt und dann sichtbar zusammenzuckt. Das grelle Handylicht kreiert harte Schatten auf seinem Gesicht; seine Augen sind weit aufgerissen, seine Lungen ziehen hörbar tief Luft ein.


„Man, Timo!", zischt er im nächsten Moment mit vom Schlaf gebranntmarkter Stimme. „Was zum-!" Und jetzt verarbeitet sein Gehirn die Information, dass sich Timo etwas unter die Nase hält.
„Scheiße, was is' passiert?" Till ist mit einem Schlag hellwach und hastet mit wenigen Schritten zu Timo hinüber, der sich immer noch wie ein Reh im Scheinwerferlicht fühlt. Sein Gehirn beginnt zu rattern, doch sein Körper ist wie paralysiert.


„Nichts", würgt er schließlich mühsam hervor. „Musste pinkeln und hab Nasenbluten bekommen."

„Wie? Einfach so?"

„Ja. Ist aber schon wieder vorbei." Demonstrativ lässt Timo das Klopapierknäuel herabsinken.

Tills aufmerksamer Blick seziert daraufhin Timos Nase, doch nichts läuft mehr nach. Nur Timos linker Mundwinkel zuckt leicht vor lauter Stress.

„Hab das manchmal in Wachstumsphasen", lügt Timo geübt weiter, indem er sich an der gleichen Ausrede bedient, die er erst kürzlich Nick aufgetischt hat: Wachstumsphase. Da können Kreislaufschwierigkeiten und Nasenbluten durchaus vorkommen. Wissen sie doch alle.
Um Till gar nicht erst die Gelegenheit zu bieten, weiter nachzubohren, setzt Timo noch ein „Ist aber auch egal jetzt. Ich hau mich wieder hin. Könnt' im Stehen einpennen" nach und schafft es endlich, sich wieder in Bewegung zu setzen.

„...klar, mach." Irritiert dreht sich Till halb herum, als Timo an ihm vorbei geht. Letzterer hat bereits die Hand auf die Klinke gelegt, da hält Till ihn mit einem Wispern zurück.
„Aber Timo?"

„Ja?"

„Tu deinem Eisenwert auf jeden Fall was Gutes morgen!" Sonst bringst du's wieder nicht im Training, komplettiert Timo automatisch den gut gemeinten „Rat". Schließlich geht es immer nur um seine Leistung, nie um ihn als Mensch... Bei dem Gedanken schlingt sich Timos Hand so fest um die Türklinke, dass seine Knöchel weiß hervortreten.

„Sicher. Nacht", ringt er sich noch ab, ehe er die Tür aufzieht und ins Zimmer schlüpft. Keine Minute später liegt er unter der Bettdecke, reibt seine kalten Füße manisch aneinander und schluckt vergeblich gegen die Trockenheit in seiner Mundhöhle an. Er hasst es. Die Nachwehen des Erbrechens sind für ihn genau so unerträglich wie die steten Krämpfe des Hungerns. Timo würde aufhören mit allem, wenn er denn könnte. Aber er kann nicht. Er kann nicht auf Dauer hungern, er kann nicht wieder normal viel essen, er kann nicht mit seinem aktuellen Gewicht siegen und er kann die nächtlichen Fressattacken nicht ohne Erbrechen kompensieren.
Wenigstens hat er ausnahmsweise mal Glück gehabt und ist Till im Flur über den Weg gelaufen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Till den Toilettenraum betreten hätte, während Timo sich gerade die Seele aus dem Leib kotzt...

Thin for the Win [Schloss Einstein FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt