Zu viel, zu nah

746 36 10
                                    

Vor dem Fenster hat sich der Herbst nieselnd einquartiert.

Timo tut es im Herzen weh, wenn er von seinem Platz im Behandlungszimmer aus zur Seite linst und einen Blick auf den wolkenverhangenen Himmel und die triste Straße erhascht. Denn er weiß, dass Viktor dort draußen steht, bestenfalls im Schutze eines Hauseingangs, und auf ihn wartet. Er hat es tatsächlich geschafft, Hauser davon zu überzeugen, das Training heute etwas früher beenden zu dürfen, um Timo abzuholen. Ein Wunder, dass Hauser das erlaubt hat. Nach der Aktion, die Viktor sich bei den Jugendmeisterschaften geleistet hat und die ihrer Schule einen sicheren ersten Platz gekostet hat, wirkte Herr Hauser ziemlich angesäuert. Timo kann es ihm nicht verübeln. Auch in ihm steigt die blanke Wut auf, wenn er Viktor sieht. Und an der Seite dieser Wut steht immer die Verzweiflung.
Warum kann Viktor nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen erfolgsorientierter sein? Er hätte einfach laufen und gewinnen sollen. Aber dann wäre Timo heute nicht hier, bei einem Erfurter Jugendpsychologen, der seine Praxis in einem ordinären Wohnhaus hat, sieben Bushaltestellen vom Internat entfernt. Abgesehen von einem schlichten Schild neben der Türe, weist nichts darauf hin, dass in diesen vier Wänden Gespräche stattfinden, die Timo bekehren sollen. Oder heilen. Oder zumindest irgendwie helfen...


„...dann sehen wir uns nächsten Montag, Timo", beendet der stabil gebaute Mann mit allmählich ergrauendem Haar nun die Therapiestunde, in der Timo deutlich dargelegt hat, warum er eigentlich hier ist: Weil er zu langsam ist. Und weil er alles in seiner Macht Stehende dafür getan hat, dies zu ändern.

„Montag schon?"

„Ja, zwei Mal die Woche, zur gleichen Uhrzeit."

„Okay..." Timos Aufmerksamkeit springt erneut zum Fenster hinaus, während er aufsteht und sich zähneknirschend damit arrangiert, in wenigen Tagen erneut hier sitzen zu müssen. Er will nicht reden. Er will nur, dass er wieder erfolgreich wird. Mit knappen Worten bringt er die Verabschiedung über die Bühne, pflückt auf dem Weg zur Haustüre seine Jacke vom Kleiderständer und zieht den Reißverschluss bis oben zu, um sich vor dem untypisch kalten Herbst zu schützen, der draußen waltet.
Als Timo die Haustüre aufzieht, entdeckt er Viktor sogleich. Jener steht schräg gegenüber vor einem Hauseingang, im Schutze eines kleinen Vordachs. Als er Timo erblickt, setzt er sich lächelnd in Bewegung, checkt die Straße und hechtet hinüber, als sich eine günstige Gelegenheit bietet.

„Und?", begrüßt er Timo, der den Weg zur Bushaltestelle um die Ecke eingeschlagen hat und kühl mit den Schultern zuckt.

„Ja, mal abwarten, ne?" Offen gestanden hat Timo nicht die blasseste Ahnung, was ihm diese Therapiegespräche bringen sollen. Eigentlich ist er in der heutigen ersten Sitzung nur ganz unvoreingenommen gefragt worden, warum er denn hergeschickt worden sei. Dass seine Ernährung völlig aus dem Ruder geraten ist, hat Timo gänzlich unerwähnt gelassen. Stattdessen hatte er vieles Andere zu sagen – über seine Ziele, über die Leichtathletikmannschaft und über seine Schlafprobleme –, aber seine Schwierigkeiten mit dem Essen, die hat er unter den Teppich gekehrt. Höchstwahrscheinlich hat dieser seltsame Kinder- und Jugendpsychologe aber im Vorfeld ohnehin schon alle wichtigen Informationen auf dem Silbertablett serviert bekommen von Frau Stocker...

Von Viktor kommt ein zustimmender Laut. Dann ein „Willst du?", indessen er ein Päckchen Maoam aus seiner Jackentasche zieht. Timo schüttelt bereits den Kopf, bevor er die Süßigkeit überhaupt in Augenschein genommen hat.

„Sicher?"

Timos Gesicht wird so finster, dass es dem Himmel starke Konkurrenz macht. Viktor soll damit aufhören. Er soll verdammt noch mal damit aufhören, Timo zu lieben! Bitte...

Schnaubend lehnt Timo erneut ab und vermeidet jeden weiteren Blickkontakt. Seine Knochen fühlen sich schwach und ausgehöhlt an. Durch seine Adern rinnt die pure Erschöpfung. Timo ist so müde von allem und jedem. Von der Schule, vom Sport, vom Essen, vom Nichtessen, vom Fressen und Kotzen und geliebt werden.
Er kann einfach nicht mehr.
Dieses Internat, diese Umgebung, diese Menschen um ihn herum – sie alle machen Timo fertig.

Thin for the Win [Schloss Einstein FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt