Absurdes

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Hallo an euch alle! Ich hoffe, ihr seid gut in die neue Woche gestartet ^^
Dankeschön wieder für all eure lieben Rückmeldungen! Das heutige Kapitel sollte eigentlich länger ausfallen, aber mir erschien es letztlich sinnvoller, es zu splitten. Das nächste Update kommt natürlich bald. Ich verspreche Besuch ^.~
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Man sollte meinen, Krankenhausessen ist gesund, aber Timo bekommt schon vom bloßen Hinsehen Brechreiz. Vor ihm auf dem Teller liegt ein totgekochtes Stück Fleisch in brauner Soße, deren Haut so dick ist, dass man sie schneiden kann. Drum herum sind fünf blassgelbe Salzkartoffeln drappiert und aus der kleinen Servierschale anbei grüßt ein Salat, der verdächtig nach'Tüte auf und Flasche Öl drüber' aussieht. Und als sei all das nicht schon schlimm genug, trumpft das Tablett auch noch mit einem Becher Sahnepudding auf.


„Wow, du hast Glück! Gestern gab's nur 'ne Birne zum Nachtisch", freut sich Pit im Nebenbett und schnappt sich seine Gabel, um die Hauptspeise in Angriff zu nehmen.

Nach Timos rüder Anfuhr vorhin war vorerst an kein Gespräch mehr zu denken und auch jetzt hat Timo keinerlei Bedürfnis, über sich oder sein feiges Benehmen zu reden. Angewidert setzt er den Deckel zurück auf sein Tablett, greift nach seinem Handy und weiß nicht, wovor er sich mehr fürchtet: Dass seine Freunde ihm wütend-enttäuschte Nachrichten schicken oder dass sein Akku im Laufe der nächsten Stunden den Geist aufgibt. Timo bräuchte sein Ladekabel und seine Kopfhörer, wenn er hier nicht vor die Hunde gehen will. Andererseits ist so ein leerer Handyakku die perfekte Ausrede, um niemandem Rede und Antwort stehen zu müssen...


„Willst du nichts essen?", wundert sich Pit und Timo schenkt ihm einen flüchtigen Seitenblick.
„Kein Hunger."

„Ich weiß, es sieht nicht soo lecker aus und es schmeckt auch nicht so gut wie im Internat, aber probier's doch wenigstens mal! Du musst doch wieder fit werden."

„Ich bin fit! Ich brauch kein scheiß Essen! Es geht mir bestens!"

„Warum hast du dann den Zusammenbruch vorgespielt?"

„Weil-" Timo stoppt sich mit einem rabiaten Biss auf die Unterlippe und zieht instinktiv die Bettdecke ein Stück höher. Ihm ist kalt und in seiner Ellbeuge ziept der Zugang, der den Inhalt eines Infusionsbeutels in seinen Körper leitet. Weiß der Himmel, was das für ein Zeug ist und wie viele Kalorien es hat... Wenn Pit wenigstens mal für ein paar Minuten verschwinden würde, dann könnte Timo ein kurzes Workout machen. Doch mit einem gebrochenen Bein spaziert man eher selten zum Zeitvertreib durchs Krankenhaus und deswegen sieht Timo pechschwarz für seine Privatsphäre.


Auf Pits Teller beugen sich die Fleischfasern der Messerklinge. Vermutlich handelt es sich um Rinderbraten. Fasziniert beobachtet Timo das Geschehen, im Hinterkopf die überwältigende Erinnerung an den fabelhaften Rinderbraten seiner Oma. Dafür hätte Timo früher alles stehen und liegen gelassen...

„Möchtest du nicht mehr Staffellaufen?"

Die Frage verwirrt Timo hochgradig. Blinzelnd wechselt seine Aufmerksamkeit vom Fleisch auf dem Teller zu Pits Gesicht.
„Doch, klar, wieso?"

„Warum bist du dann nicht gelaufen?"

Warum, warum, warum... Timo will nach wie vor nicht darüber reden und bevorzugt es deshalb, mit den Schultern zu zucken.

„Das musst du doch wissen!?", sagt Pit. Seine Worte umfließen ein großes Stück Braten, das er sich zum Reden in die rechte Backentasche geschoben hat. „Ich wusste zumindest, warum ich das Logo geklaut hab und überhaupt..."

Ja, und Timo weiß es auch. Die ganze Schule weiß es mittlerweile.

Eine Kartoffel folgt dem Stück Fleisch, wird sorgsam zerkaut und per Schlucken in Pits Bauch hinab befördert. Timo wird zunehmend nervöser, je länger sein Mitschüler in Gedanken abtaucht. Als er wenig später wieder an die Gesprächsoberfläche dringt, hat er gefunden, wonach er gesucht hat:
„Hattest du Angst, dass du nicht schnell genug bist?"

Dass Pit es tatsächlich wagt, das so frei heraus zu sagen...!

Schocksteif sitzt Timo da. Den Rücken unbequem ans aufgerichtete Kopfteil des Krankenhausbetts gelehnt, weiß er, er muss diesen Verdacht abwenden. Er muss die Wahrheit verleugnen. Sein Kopfschütteln kommt allerdings zu spät. Sein Gesichtsausdruck hat ihn längst verraten.

„Bin zuletzt keine guten Zeiten mehr gelaufen", drückt er sich diplomatisch aus, als er schließlich die Sprache wiederfindet. Auf seiner Zunge brennt ein 'Ich lauf nur noch scheiß Zeiten. Sogar 'ne Schnecke könnte mich locker überholen! Wenn ich vorhin versagt hätte, wäre Till komplett ausgerastet, Viktor hätte mir vor Enttäuschung die Freundschaft gekündigt und Hauser hätte mich aus dem Team geschmissen!'. Leider ist der Stand der Dinge jetzt kaum besser, denn die Qualifikation haben sie definitiv nicht gepackt – wegen Timo. Aus dem Wunsch heraus, die Realität von sich fern zu halten, presst jener die Lider so fest zu, dass ihm schwindelig wird.



„Und dann dachtest du, es ist besser, du läufst gar nicht, als dass ihr als Team verliert?"

„Ja..." Aber es ging um so viel mehr als eine Qualifikation fürs Team. Timos gesamte Zukunft stand auf dem Spiel. Pit kann das wahrscheinlich gar nicht nachvollziehen, weil er nie Leistungssport betrieben hat. Selbst wenn man als Team antritt, so ist jedes Team doch nur so stark wie sein schwächstes Mitglied und Timo weiß, was auf kurz oder lang mit dem schwächsten Mitglied passiert: Es fliegt raus. Dem Rest des Teams zugunsten.


„Vielleicht solltest du Herrn Hauser mal sagen, dass du so große Angst hast?"

Der Vorschlag ist dermaßen absurd, dass Timo trocken auflacht. Der Laut klingt wie das Schnaufen eines aufgehetzten Stiers, der dem Tode geweiht ist.
„Vergiss es!" Lieber verlässt Timo freiwillig das Team, als sich diese Blöße zu geben. Die Schärfe in seiner Stimme tötet alles ab, was Pit noch sagen wollte. Die Augen rund und groß, scheint er sich nach allen Regeln der Kunst zu bemühen, Timo zu verstehen. Wie weit er dabei kommt, ist nicht ersichtlich. Sein Blick huscht schließlich zurück auf seinen fast leeren Teller. Mit den Zinken seiner Gabel durchkämmt Pit den dunklen Soßenpool, schiebt eine der absolut ungenießbar aussehenden Kartoffeln umher und legt anschließend seine Gabel ab.


Timo tut es längst wieder leid, schon zum zweiten Mal seit seiner Einlieferung aus der Haut gefahren zu sein. Früher ist er viel ausgeglichener gewesen. Früher hat er andere Leute nicht sofort angeranzt. Früher hatte Timo noch ein intaktes Nervenkostüm. Heute hängt es nur noch in Fetzen. Er ist launisch und Pit ist wahrlich nicht der Einzige, der ständig patzige Antworten vor den Latz geknallt bekommt. Unwillkürlich muss Timo an den Chat mit Viktor denken. Mies. Einfach nur mies. Wenn die Leute ihn nicht irgendwann wegen seiner schlechten Leistung meiden, dann weil Timo ein Kotzbrocken sondergleichen ist.
Ob Viktor wohl deshalb noch nicht geschrieben hat? Oder ist er einfach zu enttäuscht von Timo?


Mit einer müden Geste hebt Timo den Deckel wieder von seinem Essenstablett und hält Pit versöhnlich den Puddingbecher hin:
„Hier. Ich mag eh kein' Schokopudding. Und sorry, dass ich dich so angefahren hab. War einfach ein ätzend stressiger Tag heute."

Pits Gesichtszüge zeigen sich erst überrascht; dann strahlt er so plötzlich, als habe man einen Schalter umgelegt.
„Schon okay!", reckt er sich freudig, um Timo den Puddingbecher abzunehmen. „Aber du bist schon seltsam. Magst keinen Pudding", grinst er dabei frech.

Timo zuckt lieber mit den Achseln, statt einzugestehen, dass das gelogen war. Warum sollte er auch? Er schafft lieber Frieden, als sich mit Sahnepudding zu mästen. Bei seinem letzten Gedanken nimmt er besorgt den Tablettenschieber ins Visier, der ihm gemeinsam mit dem Mittagessen serviert wurde. Die beiden Tabletten darin sind auch nichts weiter als überflüssige Kalorien. Flugs holt Timo sie aus dem Schieber, führt sie zum Mund, setzt sein Wasserglas an und tut so, als würde er die Tabletten runterschlucken. In Wahrheit wandern sie jedoch in seine geballte Hand und von dort aus geradewegs unter die Decke, in Timos Hosentasche. Pit merkt das nicht. Pit löffelt nämlich gerade genüsslich Chemiesahne.

Thin for the Win [Schloss Einstein FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt