Wir Menschen haben eine bestimmte Abfolge, ein bestimmtes System in unser Leben gemeißelt, welches von Geburt an eingebrannt wird in jedes Kindes Gehirn.
So wie auch Gegensätze. Es ist ein ausgeklügeltes Prinzip, welches man nicht hinterfragen soll...
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Selma saß auf dem robusten, jedoch alten Sessel, welcher einst einem alten Mann nördlich ihrer gemütlichen Hütte gehörte. Dieser war nicht ganz sauber im Kopf und allgemein glaubte Selma, dass sein Leben nicht rein gewesen war, jedoch war ihr das egal.
Das schwarzhaarige Mädchen dachte oft über den alten Mann nach, welcher jeden Morgen um sechs Uhr aus seinem Häuschen ging, um dann den ganzen Tag im Dorf zu verbringen, welches eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt lag. Ganz tief, im Tal des Berges.
Zu Fuß käme man auf vier Stunden, mindestens. Der alte Mann, von 69 Jahren, ging jeden Tag zu Fuß. Sie hatte ihn nie gefragt, wieso er nicht in das Dorf zog, wenn er doch jeden Tag dort seine Stunden verbrachte.
So wie er nie fragte, wieso ein 22-jähriges Mädchen allein im tiefsten Wald von Island lebte. Er stellte keine Fragen, sie stellte keine Fragen und so kamen sie wohl ganz gut zurecht.
Selma trank aus der Porzellantasse ihren heißgeliebten Pfefferminztee, welche sie einmal auf einem Flohmarkt erworben hatte. Ohne Zucker, ohne Milch und ohne Honig. Nein, das Leben musste man ungesüßt genießen. So war die Devise des alten Mannes.
Draußen regnete es schon seit einigen, eiskalten Tagen und es sah nicht so aus, als würde es in naher Zukunft aufhören. Paar Stunden ruhte der Regen, jedoch konnte man sich darauf verlassen, dass er wiederkam.
Selma blätterte nebenbei in einem alten Roman, welchen sie schon mehrfach gelesen hatte. In und auswendig kannte sie die Worte der meisterhaften Autorin, deren Sätze sie beflügelten und ihr Herz schneller schlugen ließen.
Es war ein Meisterstück. Jedes Mal verlor sich Selma in den Buchstabenknoten, den elfenhaften Reimen, den zarten Küssen der Worte und dem Klang dieser, wenn sie diese flüsternd wiederholte und auf ihrer Zunge zergehen ließ.
Diesmal lag das Buch aufgeklappt neben ihr. Alle paar Minuten blätterte sie eine Seite um, doch sie verstand kein einziges Wort. Es kam ihr wie ein Rätsel vor, egal, wie oft Selma den Satz wiederholte, sie kam nicht darauf was er bedeutete.
Zu sehr war sie in Gedanken bei dem Mann, welcher vor zwei Monaten verstorben war. Bei der Porzellantasse mit schlichten Blumenverzierungen und den Worten der Autorin, welche ihr Gehirn diesmal einfach nicht verstehen wollte.
Die Regentropfen schlugen kräftig gegen ihre Fensterscheibe und normalerweise mochte sie das Geräusch des Regens. Es klang wie ein Orchester. Dirigiert von einer Biene. Vorne in der ersten Reihe saßen die Wespen und Mücken.
In den mittleren Reihen Marienkäfer und Fliegen. In den hinteren Reihen befanden sich Hummeln und Kolibris.
Wenn sie ganz fest die Augen schloss, so hörte sie den Klang eines Insektenorchesters, welches nur für die Tiere des Waldes und für sie spielte.
Ihre Hand zitterte. Egal, wie sehr sie sich auf ihr eigenes Orchester konzentrieren wollte, so verstand sie nicht die Melodie, welche es Selma vermitteln vermochte.
Es machte sie wütend. Missmutig erhob sich Selma aus dem schwarzen Sessel mit den goldenen Knöpfen. Geschwind schritt sie in die Küche, mit der Porzellantasse in der linken Hand. Sie wollte so gerne schreien. Alles hinausschreien, bis sie keine Luft mehr bekam und einfach kraftlos zusammenklappen würde.
Doch sie schrie nicht und sie ließ auch nicht die Wut über ihre Konzentrationslosigkeit an der Tasse aus. Das mit Blumen besäte Gefäß stellte Selma in das Waschbecken, worauf sie sich nun abstützte und tief durchatmete.
Langsam schaukelte sie sich von vorne nach hinten und von hinten nach vorne, von ihren Zehen zur Ferse und von der Ferse auf die Zehen.
Mutter lehrte sie immer, dass, wenn sie wieder mal unbändige Wut verspüren sollte, dass sie sich hin und her bewegen sollte und dabei ganz tief durchatmen müsste. Selma befolgte diesen Rat bis heute und nie vergaß sie die Tonlage, gar den Blick ihrer wunderschönen Mutter, als diese der gerade einmal sechs Jahre alten Selma dies erklärte und sogar demonstrierte.
Durch ihr schwarzes Haar fahrend beruhigte sich die junge Frau wieder und nahm Abstand zu ihrer unbegründeten Wut. Sie kam manchmal, einfach so, aus dem nichts schlich sie sich an Selma an und überrumpelte sie.
Ein Tipp ihres Therapeuten war, dass sie sich in ihrer derzeitigen Umgebung umsehen sollte und sich alles merken müsste, was nur möglich war. Jedes Detail sollte Selma betrachten.
Sie fing in der Küche an. Diese war offen, an den Wänden entlang standen graue Thekenplatten und matt türkisene Schränke hingen an ihr. Am Eingang stand ein schmaler Tresen aus hellem Holz, zwei Stühle verharrten vis a vis.
Auf der Holzplatte lag ein Teller mit Resten vom Mittagessen und ein Buch über historische Persönlichkeiten. Sie besaß keine Spülmaschine, das Waschbecken genügte. Neben der Tür war der Kühlschrank.
Ihr Blick schweifte durch den torlosen Rahmen in den Aufenthaltsraum. In diesem befand sich ein Sofa aus weichem Stoff, der Sessel, welcher gar nicht in das Bild passte und ein weicher, kunterbunter Teppich zwischen Küche und Sofa.
Ein klischeehafter Steinofen, sowie ein langer Schrank, welcher komplett mit Büchern ausgestattet war, erstreckte sich über die ganze Eckwand. Anderes blieb einem nicht übrig in der verlassenen Landschaft Islands. Anliegend an der Bücherwand war der Kamin und neben diesem ein Fenster, unter dem eine Truhe weilte.
Angegrenzt an diesem Raum lag ihr Schlafzimmer. Als Selma die Hütte beschlagnahmte, war dieser Raum als Wintergarten gedacht. Vermutete sie zu mindestens. Kurz um wurde er zu ihrem Rückzugsort.
Dieser war nicht besonders groß, eine Tür trennte ihn von den anderen Räumen. Doch das Besondere war, dass ihr Zimmer komplett aus Glas bestand. Man konnte es sich vorstellen, als wäre man in einer Glaskugel gefangen, nur war ihr Schlafzimmer etwas eckiger, wie ein geschliffener Diamant. Ein improvisiertes Bett befand sich dort, welches aus Holzpaletten, einer Matratze, Decke und vielen Kissen bestand. Das Bett lehnte an der linken Seite an der Türwand. Rechts von der Tür war ihr größter Schatz.
Eine Ansammlung an Leinwänden, Farben und alles was das Künstlerherz begehrte. Selma vergötterte das Malen und Zeichnen jeglicher Art und nirgendwo war sie lieber, als an diesem Ort in ihrem ungewöhnlichen Zimmer.
Einen Schrank hatte sie nicht, dafür eine Kiste, welche vor ihrem Zimmer, neben der Tür Platz nahm, in dem Kleidungsstücke gelagert wurden. Man konnte sie an ihren Händen abzählen. Sie lief sowieso tagelang in derselben gemütlichen Hose und demselben dreckigen Pullover herum.
Auf der linken Seite zum Wohnzimmer befand sich noch das Badezimmer, welches eine Toilette, Waschbecken, Dusche und Schränkchen enthielt. Nichts Großes oder Aufwendiges.
Selma kam aus ihrer Trance, in welcher sie alle Räume ihrer kleinen Hütte durchging, als es an der Eingangstür, welche sich neben der Theke in der Küche befand, klopfte.
Ein zögerliches Klopfen, doch als herrschte ein Sturm in Selma, starrte sie angsterfüllt die hölzerne Tür an. Wer wohl nach Eintritt fragte, nach all den Jahren der endlosen Einsamkeit?