Als ich aus den Tiefen meiner Träume emportauche, sind meine Wangen tränennass und der Arm um meine Hüfte ist verschwunden. Ich taste mit geschlossenen Augen nach ihm, aber die andere Betthälfte bleibt leer und kalt. Ich rede mir ein, dass es vielleicht besser ist. Gestern Nacht war seltsam; irgendwie ist es um meine Selbstbeherrschung geschehen. In jeder anderen Situation hätte ich Toby niemals gebeten, in mein Bett zu steigen, aber den Umständen entsprechend ist meine Reaktion wahrscheinlich nachvollziehbar. Gerade, als ich mich mit dem Gedanken angefreundet habe, allein aufgewacht zu sein, höre ich Geräusche aus dem Bad. Meine Brust zieht sich zusammen, ich kann nicht sagen, ob vor Erleichterung oder vor Schreck. Kurz darauf erscheint Toby im Türrahmen, mit nassen Haaren und einem Handtuch um den Hüften. Ich starre ihn an. "Guten Morgen", sagt er, Mitleid in den Augen. "Ich war so frei, mich bei dir zu duschen. Ich wollte dich nicht allein lassen." Er neigt den Kopf und sieht mich abwartend an. Ein Wassertropfen rollt über sein Gesicht. "Danke", stammele ich, während ich mich aus den Decken wühle. "Wie lange habe ich geschlafen?" Den Sonnenstrahlen nach, die bereits kräftig ins Zimmer scheinen, muss es wohl schon später sein als sonst, als ich aufgestanden bin. "Es ist neun." Toby rubbelt sich mit einem zweiten Handtuch die Haare trocken. In dem Moment klopft es an der Tür und ich fahre auf. Das Herz pocht mir bis zum Hals, ich komme mir so ertappt vor. Ich will nicht mit Toby in meinem Zimmer entdeckt werden, will nicht, dass sie es falsch verstehen. Ich habe aus Schwäche heraus gehandelt, nicht aus Zuneigung. "Herein", sagt Toby an meiner Stelle und es ist leider zu spät, um unters Bett zu verschwinden. Ich weiß nicht, wen ich erwartet habe. Meralda vielleicht, die uns an den Zeitplan erinnern will, oder Mya, vielleicht sogar Clarisse. Aber es ist bloß mein Avox-Mädchen, das ein silbernes Tablett mit einem Blaubeermuffin und einer dampfenden Tasse hereinbringt. Schweigend stellt sie es auf das Beistelltischchen neben meinem Bett, ehe sie wieder zur Tür heraus schwebt. Beim Anblick des Muffins fängt mein Magen augenblicklich an zu knurren, aber ich nehme nur die Tasse, in der sich Früchtetee mit Kandis befindet, und sehe Toby fragend an. Er kommt auf mich zu, lässt sich auf dem Bett nieder. "Ich dachte, das könntest du vielleicht gebrauchen, nachdem du die ganze Nacht geweint hast", sagt er sanft. Ich schlucke schwer und fahre über meine geschwollenen Augen, als wolle ich die Tränen wegwischen. Aber sie sind längst versiegt. In jeder Situation hätte ich mich für meine Schwäche geschämt, aber nicht in dieser. Spontan greife ich nach seiner Hand, ohne zu wissen, was ich sagen will, deswegen schweige ich betreten. Toby fasst mich sanft am Kinn. "Hey, sieh mich an." Ich will nicht, weil sich meine Augen erneut mit Tränen füllen, aber ich tue es trotzdem. "Es tut mir wirklich leid, was deinen Eltern zugestoßen ist", flüstert Toby, "und mir ist bewusst, dass ich nicht ansatzweise nachvollziehen kann, wie du dich fühlen musst. Und ich weiß, dass ich deine Eltern nicht mit einem Blaubeermuffin zurückholen kann, aber ich tue mein bestes, um dir beizustehen." Ich habe es aufgegeben, um Fassung zu ringen, die Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich war so damit beschäftigt, Einduck bei den anderen Tributen zu schinden, dass ich nie bemerkt habe, wie lieb Toby eigentlich ist. Nie bin ich auf ihn zugegangen, als er schwach oder alleine war, nie habe ich auch nur in irgendeiner Weise versucht, Einsicht zu zeigen. Und er tut es einfach. Setzt sich hin und tröstet mich. Das ist wie ein Hieb in den Magen, aber ich knabbere trotzdem an dem Blaubeermuffin. Er ist gut, was es umso bedauernswerter macht, dass ich ihn nicht vollends genießen kann. "Danke", schniefe ich und zur Antwort drückt Toby meine Hand.
Da heute der letzte Tag vor den Spielen ist und uns das Interview erst am Abend bevorsteht, wird der Tag mit Meralda und unseren Mentoren ganz uns zugestanden. Wir sollen mit ihnen Konzepte erarbeiten, wie wir die Zuschauer auf unsere Seite ziehen, wie wir Sponsoren für uns gewinnen können. Aber erst wird gefrühstückt. Ich lade mir meinen Teller voll mit Fladenbrot, roten Beeren, Nüssen und Zimtschnecken und ignoriere Meraldas entsetzte Blicke. Morgen bin ich eh weg, soll sie mich doch anblaffen. Nach dem Tod meiner Eltern wird ein wenig Frustfraß wohl drin sein. "Junge Dame", sagt sie mit vorwurfsvoll geneigtem Kopf, als ich mich setze. "Was?" Ich beiße provozierend gierig in meine Zimtschnecke und schmatze extra laut. "Das Kleid, das Clarisse für dich entworfen hat, soll auch heute Abend noch passen", sagt Meralda spitz. "Wofür? Ich dachte, ich werde eh wieder versteckt." Beim Gedanken an die albernen Masken bekomme ich einen ganz bitteren Geschmack im Mund. Trotzdem schlinge ich einen weiteren Bissen der Zimtschnecke in mich hinein und lecke mir genüsslich die Finger ab. Meralda senkt zornig den Kopf. "Nein, Sky, natürlich nicht", sagt Clarisse mit einem halbherzigen Lächeln. Samson bedenkt mich mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Ich kaue, schlucke und sage:"Was trage ich dann?" "Ein Kleid." Clarisse schneidet ihr Hühnchen in Rahmsauce mit Buttergemüse und schiebt sich ein Stück in den Mund. Es sieht nicht so aus, als würde sie ihre Antwort noch präzisieren. "Entschuldigung", sage ich matt. "Ich bin wohl etwas gereizt." Nach den Worten bekomme ich von allen Seiten mitleidige Blicke. "Schätzchen, das kann dir keiner verübeln", sagt Merlada, jetzt wieder lächelnd, sofern das mit herzchenförmigen Lippen möglich ist. Ich starre sie schweigend an, warte auf mehr. "Gestern habe ich die Runde der Sponsoren abgeklappert." Als sie jetzt spricht, ist es wieder an alle gewandt. "Bis spät in die Nacht bin ich durch's Kapitol gereist und habe sie besucht, um ihnen zu versichern, dass Sky mit ihren Eltern nichts zu tun hatte. Stellt euch vor, sie glaubten tatsächlich, Sky stecke mit diesen Rebellen unter einer Decke! Zum Glück konnte ich die meisten von diesem Irrsinn abbringen, sodass ihr nach wie vor Sponsoren habt. Aber ein paar habt ihr wohl verloren. Einige können das 1 nicht verzeihen, und ihr seid nun mal aus 1." Sie seufzt abgrundtief, um ihre Worte zu unterstreichen. "Tja, da kann man wohl nichts machen", sagt Toby grimmig. Ich hingegen verspüre tiefste Dankbarkeit Meralda gegenüber, dass sie so etwas für uns getan hat, andererseits schäme ich mich für meine Eltern. "Es tut mir so...-", setze ich an, werde aber energisch von Mya unterbrochen. "Du kannst nichts dafür! Kapiert? Du kannst nichts dafür." Ich nicke nur. "Danke, Meralda", sage ich dann. "Es ist sehr nett von dir, dass du all unsere Sponsoren besucht hast, obwohl wir so anstrengende Tribute sind." Das mag etwas überschwänglich klingen, aber für Meralda ist es genau richtig. Sie blinzelt ein paar Tränen weg, dann schüttelt sie den Kopf. "Oh, Schätzchen! Du bist ein so liebenswürdiges Mädchen, wenn du nur willst. Nein, ihr seid nicht anstrengend." Jetzt sieht sie auch Toby kurz an. "Um Gottes Willen, das sollt ihr nicht von euch denken! Ich verstehe das. Ihr steht unter Druck. Da ist es doch ganz normal, wenn man mal überreagiert." Sie holt ein gold-rosa besticktes Taschentuch hervor, um sich die Augenwinkel abzutupfen. Toby und ich wechseln einen kurzen, erleichterten Blick. Zumimdest unsere Betreuerin konnten wir beruhigen.
Nach dem Essen werden Toby und ich getrennt trainiert. Er geht zuerst mit Shane in den Salon, während ich die ersten vier Stunden mit Meralda verbringe. Erst fragte ich mich, was sie mir beibringen soll und vor allem vier Stunden lang, aber dann stellt sich heraus, wieviel sie mir zeigen muss. Bei ihr geht es hauptsächlich um Manieren. Sie kümmert sich um das Äußerliche meines Interviews - wie ich sitze, wie ich den Kopf halte, wann ich wie lächele und wie ich meine Beine überschlagen soll. Anscheinend ist es ein großer Unterschied, ob man beim Lächeln seine Zähne zeigt oder nicht. Denn jedes Mal, wenn ich mir eines abringe, erleidet Meralda fast einen Herzinfakt. "Nein, Kind, mach den Mund zu! Du sollst nicht grinsen, sondern lächeln! Was ist daran so schwer?" Ich zwinge mich, die Fassung zu bewahren und strahle sie mit geschlossenem Mund an. Da gibt sie sich zufrieden. Aber anscheinend gibt es auch Augenblicke, in denen ich beim Lachen sehr wohl meine Zähne zeigen soll. Da ich aber hinten und vorne nicht mitkomme, nicke ich einfach und gebe ihr das Gefühl, alles verstanden zu haben. Anschließend zwängt sie mich in ein rauchblaues Tüll-Kleidchen mit weiß glitzerndem Saum und zieht mir silberne Schuhe mit halsbrecherischem Absatz an, in denen sie mich durch den Raum staksen lässt. Ich komme mir vor wie auf Stelzen. Schon nach ein paar Minuten bin ich nass geschwitzt und meine Zehen schmerzen, aber Meralda lässt nicht locker, bis ich einigermaßen laufen und das Kleid auf der richtigen Höhe raffen kann (nicht über den Knöchel, lautet hier die goldene Regel). Danach soll ich sitzen üben - wie es aussieht, habe ich eine krumme Haltung. Sie flößt mir ein, wie wichtig es sein wird, aufrecht zu sitzen. Als ich es endlich schaffe, wirft sie mir jedoch vor, regungslos zu sein. "Du bist keine Statur, Sky! Du musst dich schon bewegen. Es soll natürlich aussehen!" Die Frage ist nur, wie man inmitten von buntem Tüll, Glitzer und Schminke natürlich aussehen soll, aber den Kommentar verkneife ich mir. Am Ende nimmt sie die Rolle von Ceaser Flickerman ein und fragt mich hundert alberne Fragen, auf die ich mit 'natürlichen' Bewegungen antworten soll - durch's Haar streichen, lächeln, vorlehnen, zurücklehnen, zwinkern und so weiter und so fort. Als die vier Stunden endlich vorbei sind und wir zum Mittagessen in den Speisesaal gehen, tut mir vom vielen Lachen der Kiefer weh. Meinen Nerven geht's auch nicht gerade gut, aber wenigstens bin ich abgelenkt und Meralda zufrieden. Jetzt muss ich mich nur noch Mya und ihren Methoden stellen, dann hab ich's hinter mir.
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mörderisches Vergnügen - Die Tribute von Panem FF
FanficDistrikt eins. Ein Distrikt voller Reichtümer, voller Potential und vor allem voller mordlüsterner Jugendlicher, die alles dafür tun würden, der schnellste Freiwillige zu sein, um die alljährlichen Hungerspiele zu gewinnen. Eine von ihnen ist Sky Hu...