Ich wache mit einem seltsam verheißungsvollen Kribbeln in der Magengegend auf, ohne zu wissen, woher es rührt. Doch dann wird mir schlagartig klar: Heute ist das Einzeltraining. Heute kann ich den Spielmachern beweisen, dass ich eine Gefahr für sämtliche Tribute bin. Dass es sich lohnt, mich zu sponsorn. Mit Schwung werfe ich meine Füße über den Bettrand, laufe ins Bad und dusche mich. Ich wähle eine Seife, die nach Honig riecht und nehme für meine Haare ein Gel, das nach Maiglöckchen duftet. Schließlich begebe ich mich in den Ganzkörper-Trockner, der meine Haare mühelos entwirrt. Danach springe ich in die Trainingskluft und haste in den Speisesaal.
Es ist wirklich früh, hinter den Panoramafenstern geht gerade die Sonne auf. Mit ihrem kräftigen, goldenen Licht bringt sie das Kapitol zum Strahlen. Einige metallene Gebäude reflektieren ihr Licht und blenden mich. Ich kneife die Augen zusammen. Obwohl ich so früh bin, sind alle anderen schon da. Sie sitzen am Tisch und scheinen auf mich zu warten. "Morgen", sage ich höflich, während ich meinen Teller rasch mit Schinken, Ei, einer Scheibe Schwarzbrot und Radieschencreme fülle. Ehe ich mich zu den anderen setze, nehme ich mir noch eine Tasse heiße Schokolade. "Heute ist Tag des Einzeltrainings", sagt Shane, noch bevor ich mich setzen kann. "Das heißt, ihr werdet nach dem Mittagessen fünfzehn Minuten Zeit bekommen, um eure besten Fähigkeiten zu präsentieren. Heute Abend werden eure Punkte im Staatsfernsehen ausgestrahlt und wir werden die Vergabe natürlich auf dem Monitor im Salon mitverfolfen." Shane fährt sich durch die strubbeligen Haare, während Toby und ich einen raschen Blick wechseln. Die Stimmung zwischen uns ist nach wie vor ziemlich kalt, aber irgendwie müssen wir ja miteinander auskommen. Wir sind immerhin Verbündete. "Nach dem Mittagessen?", sage ich schließlich und lege den Kopf schief. "Genau", antwortet Clarisse an Shanes Stelle, da er den Mund voll hat. "Davor könnt ihr also ganz normal mit allen trainieren." Ich nicke, das ist gut. In den letzten beiden Tagen habe ich entweder Messer geworfen, oder meine Gegner unter die Fittiche genommen. Es wird mir guttun, heute ein paar Überlebensstationen zu besuchen. Ich weiß nämlich noch immer nicht, wie man ein Feuer entfacht, oder wie man sich am besten tarnt. Ich habe keine Ahnung, welche Pflanzen giftig sind und welche nicht. Es wäre schon gut, das alles zu lernen. "Was wirst du ihnen zeigen?", fragt Toby. Er schaut mich an, also hat er wohl mich gemeint. Ich presse die Lippen aufeinander. "Messer. Du?" Er kaut, schluckt, und sagt:"Hm, Wurfstern." Ich nicke, ohne was zu erwidern. Da schlägt Shane plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch. "Sagt mal, streitet ihr euch immer noch? Das muss aufhören, wenn ihr übermorgen Seite an Seite kämpfen wollt!" Die anderen nicken zustimmend, aber wir ignorieren sie. "Du solltest ihnen auch zeigen, dass du gut Ringen kannst. Mit einem Trainer", sagt Toby leise, "und du solltest rennen. Das wird sie beeindrucken." Kurz berührt er meinen Arm, aber seine Hand ist so blitzschnell wieder weg, dass ich es mir auch eingebildet haben könnte. "Ivory ist schneller", erkläre ich hastig. "Viel schneller." "Renn", beharrt Toby und da beschließe ich, ihm auch einen Rat zu geben. "In Ordnung. Aber nur, wenn du auch für sie kletterst." Er setzt zum Protest an, ich gebe ihm jedoch keine Chance, zu reden. "Vertrau mir. Tu etwas schlaues. Und klettere. Sie werden mögen, wie lautlos du bist." Mit den Worten schiebe ich meinen Stuhl zurück, um mir eine weitere Tasse heiße Schokolade zu holen. Denn wie Shane schon sagte, übermorgen wird's ernst. Ein bisschen Luxus muss ich mir noch gönnen, bevor ich mich durch die Hungerspiele kämpfe.
Mya begleitet uns ins Trainingscenter, wir alle schweigen. Wäre Shane mitgekommen, hätte er uns wahrscheinlich irgendwas mit auf den Weg gegeben, aber Mya zeigt sich mir gegenüber, besonders wenn Toby dabei ist, nach wie vor verschlossen. Vielleicht ist es Teil einer Strategie, die ich nicht verstehe. Vielleicht steckt ein Plan dahinter. Ich weiß es nicht und ich denke auch nicht darüber nach. Wenn ich eins von meiner Mentorin gelernt haben soll, dann, dass ich ihre Entscheidungen nicht infrage stellen soll, sondern vielmehr die Regeln des Kapitols. Aber so rebellisch bin ich nicht. Sondern ich glaube fest an die Form, die die Regierung angenommen hat, wenn sie auch jährlich dreiundzwanzig Leben kostet. Ich bin stolz auf Panem.
"Macht das beste draus", sagt Mya, ehe sie mit dem Aufzug wieder hochfährt. Und weg ist sie. Seufzend sieht Toby auf mich herab, aber ich starre angestrengt an ihm vorbei. Da geht er dann einfach. "Tse", mache ich, halb perplex, halb wütend, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich heute lernen will, wie man überlebt, und da gehe ich doch lieber schnell in den Mini-Wald.
Mein Einzeltraining verläuft gut. Dadurch, dass ich überhaupt die erste an der Reihe bin, widmen mir die Spielmacher ihre vollste Aufnerksamkeit. Ich habe fünfzehn Minuten, wie Shane sagte. Erst entfache ich mit flinken Fingern ein Feuer, was mir die Kleine aus 12 am Vormittag aus Dankbarkeit, dass ich ihr mit den Messern geholfen habe, gezeigt hat. Anschließend ringe ich mit einem Trainer, sprinte eine Runde um die Halle und gehe dann zu den Messern. Beim Mittagessen habe ich mir oft genug ausgedacht, wie es sein würde, mich den Spielmachern zu zeigen, aber es ist überraschend einfach. Dadurch, dass sie schweigen, kommt es mir vor, als seien sie gar nicht da. Ich nehme ein Messer, wiege es in der Hand, betrachte die polierte Klinge. Dann, ganz schnell, drehe ich mich um meine eigene Achse und werfe es in Richtung Tür. Die Klinge schnellt mit einem Klirren genau ins Schlüsselloch. Ich zeige ihnen noch mehr, und ich glaube, die Spielmacher sind zufrieden. Um meiner Vorstellung ein perfektes Ende zu bescheren, fauche ich, wie an dem Tag, als wir in den Bahnhof einfuhren. Die Spielmacher nicken anerkennend, ein Murmeln bricht aus. Während ich auf den Aufzug zugehe, werfe ich stolz meine Haare zurück. Ich hab's geschafft. Ohne Patzer. Ich drücke die 1, ein Piepsen ertönt. Wenig später öffnen sich die Aufzugtüren genau in dem Moment, in dem eine weibliche Stimme Tobys Namen aufruft. Bevor ich in den Aufzug steige, drehe ich mich zu ihm um. Auch er schaut in meine Richtung. 'War es gut?', scheint sein Blick zu sagen, und ich nicke. Es fühlt sich gut an, mit dem Training abgeschlossen zu haben, sehr gut. Jetzt steht mir nur noch das Interview bevor. Als ich mit dem Gedanken schließlich in den Aufzug gehe, ertönt ein markerschütternder Schrei, gefolgt von einem Gurgeln. Blitzschnell und mit klopfendem Herzen drehe ich mich um. Die Türen schließen sich bereits, sodass ich nicht mehr viel sehe. Nur, dass von der Tribüne der Spielmacher Blut tropft. Nur, dass Toby leichenblass wie versteinert dasteht. Nur, dass eine Person röchelnd am Boden liegt. Nur, dass Seneca Crane wütend das Gesicht verzogen hat. Dann setzt sich der Aufzug in Bewegung. "Nein!", brülle ich, während ich mit beiden Fäusten vor die Türen schlage. Ein Instinkt in mir will zurück, um zu helfen. Der restliche Teil meines Verstandes wünscht sich ganz weit weg. Noch immer höre ich das Röcheln in meinen Ohren, obwohl ich schon im ersten Stock ankomme. Heiße Tränen kullern über meine Wangen. Ohne Mya oder Shane von meinem Einzeltraining Bericht zu erstatten, verschwinde ich auf mein Zimmer. Auch die Avoxe verscheuche ich. Was ich jetzt brauche, ist Ruhe. Und Zeit für mich allein.
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Na, was sagt ihr dazu? ♥ Ist jetzt nicht das längste Kapitel, aber na ja.. :D
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mörderisches Vergnügen - Die Tribute von Panem FF
FanfictionDistrikt eins. Ein Distrikt voller Reichtümer, voller Potential und vor allem voller mordlüsterner Jugendlicher, die alles dafür tun würden, der schnellste Freiwillige zu sein, um die alljährlichen Hungerspiele zu gewinnen. Eine von ihnen ist Sky Hu...