Kapitel 5

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Wir erreichen das Kapitol am Nachmittag. Begleitet von tosendem Applaus und Jubelrufen fahren wir in den blinkenden, riesigen Bahnhof ein. Nicht riesig genug. Vor den Fenstern drängen sich die Menschen, die aussehen, wie aus einer anderen Welt. Wohin man sieht, überall strotzt es vor Farbe und Freude, in den Gesichtern nur falsche Wimpern, falsche Lippen. Eingehüllt in pinke Pelzmäntel oder knallgelbe Kleider, recken sie die Hände in die Höhe und bejubeln unsere Ankunft. Natürlich,  denke ich. Sie lieben Distrikt 1. Ohne uns besäßen sie all diese Luxuswaren nicht. Trotzdem kann ich diese Liebe nicht erwidern, auch wenn ich weiß, dass ich diese Leute früher oder später brauchen werde. Unter diesem bunten, blinkenden Haufen sind mit Sicherheit einige Sponsoren versteckt, die schon jetzt wissen wollen, ob es sich lohnt, ihr Geld für die Tribute aus 1 zu opfern. Ich muss mich genauso zeigen wie bei der Ernte. Seit dem Augenblick, da ich mich freiwillig meldete, habe ich eine Persönlichkeit - Ich bin kühl, wild und gefährlich. Ich bin stark. Also besser kein Winken,  denke ich im Stillen. Wie ich feststelle, winkt auch Toby nicht. Wir beide stehen am Fenster und schauen mit blitzenden Augen in die Menge hinaus. Ich erlaube mir einen Scherz und ahme das Fauchen einer Katze nach, was die Menschen noch tosender werden lässt. Sie lieben sowas, das hat Großvater mir immer beigebracht. Toby's verwunderten Seitenblick quittiere ich mit einem grimmigen Lächeln.

"Da ihr aus Distrikt 1 kommt, habt ihr das große Glück, schon jetzt euer Apartement zu beziehen. Da könnt ihr die Nacht vor der großen Eröffnungsfeier in Ruhe verbringen - die äußeren Distrikte können das nicht. Also genießt den Vorteil. Genießt alles hier, es ist bloß eine Woche." Meralda seufzt theatralisch, als sie den Knopf für den Aufzug drückt. Wir sind zwar im Trainingscenter, aber die Appartements für die Tribute sind weiter oben gelegen. Staunend blicke ich mich um. Alles hier ist modern und silbern oder blinkend, diese Technik gibt es in den Distrikten nicht. Es ist Neuland für mich. Die Glasscheiben des Aufzuges geben den Blick auf das Trainingscenter frei, während wir rasend schnell in die Höhe gleiten. Doch da wir aus Distrikt 1 kommen, fahren wir nicht sehr hoch, schließlich ist unser Apartment das erste. Während sich die Türen mit einem Zischen öffnen, unterdrücke ich ein Gähnen - das alles gegenüber meinem eintönigen Leben ist zu viel für mich. Ich muss erst noch verarbeiten, dass ich es überhaupt so weit geschafft habe. Ich bin in den Hungerspielen. Ich bin dabei!  Meralda scheint meine Gedanken zu lesen. "Es ist ein sehr anstrengender Tag gewesen. Ihr solltet euch ausruhen, ihr habt Zeit. Wir essen erst um sieben." Ihre Schuhe klackern auf dem dunklen, glatten Boden und das Geräusch hallt von den Wänden wider. "Wir essen dort vorne", erklärt sie und deutet auf eine angelehnte Tür, die wahrscheinlich zum Speisesaal führt. "Eure Bereiche findet ihr hinter diesen Türen. Wir schlafen dort hinten. Also legt euch hin, nehmt ein Bad." Meralda zwinkert uns kichernd zu. "Staunt. Probiert die Duschen oder den Zimmerservice aus. Was immer ihr wollt." Toby räuspert sich. "Danke, Meralda." Er legt seine Hand auf den Knauf seiner Tür und verschwindet im Ungewissen. Meralda klimpert juchzend mit den Winpern. "Es ist alles so herrlich", schwärmt sie. "Ich freue mich jedes Jahr auf's Neue." Ich frage mich, ob ich etwas erwidern soll, aber ich bin der nötigen Nerven beraubt, ein Gespräch mit Meralda über die Hungerspiele zu führen. Es sind zwei verschiedene Sichtweisen, zwei verschiedene Arten von Freude. Sie erlebt es jedes Jahr wieder, aber sie ist mitten im Geschehen und präsentiert die Favoriten des Kapitols - und sie bekommt die Möglichkeit, selber im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Freude ist jubelnd, singend, befreit, ihre Freude wiederholt sich. Die prickelnde, angespannte Vorfreude, die unter uns Karrieros herrscht, kann man damit nicht vergleichen. Menschen wie Meralda machen die Spiele interessanter, indem sie die Tribute verschieden darstellen - aber ohne uns sind sie nicht möglich. Wir sind die Spiele. Und wir erleben sie nur einmal, 23 von uns werden diese Arena nie verlassen.

Deswegen nicke ich und schiebe mich vorsichtig in meinen Bereich - wer weiß, was mich erwartet? Das erste, was ich dann sehe, sind die zwei Avoxe in den roten Gewändern, die links und rechts von der Tür stehen. Ihr lebloser, matter Anblick lässt mich innehalten. Mit Situationen wie dieser bin ich nicht vertraut und weiß nicht, was ich tun soll. Was ich allerdings sehr wohl weiß, ist, dass sie da sind, um meine Befehle zu befolgen. Ich beschließe, Meralda's Rat, den Service zu nutzen, zu befolgen. "Ein Wasser hätte ich gern", sage ich und hebe das Kinn - sie sollen ruhig sehen, dass ich der Größe meines Auftretens bewusst bin. Sie sollen sich klein unter mir fühlen. Sie sollen mich schon jetzt wie eine Siegerin behandeln. Der Jungen-Avox gleitet lautlos den Flur entlang, um für mein Wasser zu sorgen. Das Mädchen, das geblieben ist, starrt auf den Boden. Wahrscheinlich sollen sie sich so distanziert verhalten, wie nur irgend möglich. Avoxen ist es nicht erlaubt, engen Kontakt zu ihren Mitmenschen zu haben, ein weiterer Grund, warum man ihnen die Zunge abschnitt. Sie verstoßen gegen die Regeln, also nehmen sie ihnen ein Teil der Menschlichkeit. Und sie werden für ihr Leben lang die künftigen Sieger von Panems Hungerspielen bedienen. Eine gerechte, wenn auch harte Strafe, wie ich finde. Ich mustere die kastanienfarbenen Haare des Mädchens, bevor ich sie anspreche. "Zeig mir bitte mein Zimmer." Ihre kleinen Augen streifen meine, für den Bruchteil einer Sekunde, dann geht sie mir mit federnden Schritten voran und führt mich zum Ende des Ganges. Als sie eine weitere Tür öffnet, erscheint der Junge mit meinem Wasser. Ich nehme es an, ohne zu danken, dann betrete ich den Raum, der wohl mein Schlafgemach sein soll. Die Wand hinter meinem Bett ist golden, eine weitere verglast, sodass ich auf das Kapitol blicken kann und die letzten beiden sind in einem schlichten weiß gehalten. Wie erwartet ist mein Bett riesig und mit Satin-Bezügen und Samtkissen ausgestattet. Ich spüre den Anflug eines Grinsens in meinen Wangen kribbeln. Doch die Avoxin ist noch nicht fertig und geleitet mich zu einer weiteren Tür. Sobald sie diese geöffnet hat, strahlen mir hunderte kleine Lämpchen entgegen, die einen Spiegel umrahmen. Mein Badezimmer. "Danke." Ich drehe mich zu den Avoxen und nicke ihnen zu, um ihnen zu verstehen zu geben, dass ich vorerst bestens umsorgt bin. Schweigend und lautlos verlassen sie das Zimmer, sodass ich mir das Bad in aller Ruhe ansehen kann. Es gleicht dem aus meinem Zugabteil, ist aber wesentlich größer. Schließlich werfe ich mich auf's Bett und grübele, wie es zu Hause aussehen mag. Meine Großeltern sind stolz auf mich, das weiß ich, und sie zweifeln nicht an meinem Sieg. Und Blaze... der kann es gewiss kaum bis zur Eröffnungsfeier abwarten. Außerdem weiß ich, dass er mich darum beneidet, hier zu sein, aber er ist zu jung und würde die Spiele niemals überleben. Es wäre leichtsinnig, für den Luxus hier sein Leben auf's Spiel zu setzen. Aber tue ich das nicht auch? Ich drehe mich auf den Bauch und blicke zum Fenster hinaus. Über den Dächern des Kapitols leuchtet die Abendsonne wie ein großer orangefarbener Ball. Meine Gedanken schweifen zu Toby. Seit ich denken kann, predigt Großvater mir vor, dass man die Menschen um sich herum durch Beobachten verstehen muss, um sie zu kennen. So habe ich einen feinen Sinn für das Denken meiner Mitmenschen bekommen und ich entdecke schnell, wie ihr Hirn funktioniert. So konnte ich meine Gegner in der Akademie durch reines Beobachten schlagen. Ich sah, wie sie kämpften und welche Fehler sie machten, und genauso wird es mit den anderen Tributen sein. Mit allen, außer Toby. Ich verstehe ihn einfach nicht. Gut, wir kennen uns gerade mal einen Tag, aber normalerweise hätte ich erkennen müssen, wie er tickt und auf was er aus ist. Doch so ist es nicht. Irgendwie ist er schlauer als ich dachte. Entweder er versucht bewusst, seine Taktiken zu verbergen, oder er möchte Eindruck schinden. Aber was macht ihn so gefährlich? Toby kann nicht stark sein, dazu hat er zu wenige Muskeln. Um schnell zu sein, müsste er längere Beine haben, und dennoch hat er diesen Ehrgeiz in den Augen. Er ist von sich selbst überzeugt, ich weiß nur nicht, was ihm dieses sichere Gefühl gibt. Außerdem weiß ich nicht, ob ich ihm trauen kann. Während der Zugfahrt war er so vieles: verschlossen, nachdenklich, humorvoll und charmant. Welche Seite wird er auf der Eröffnungsfeier zeigen? Und welche Seite werde ich  zeigen?

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mörderisches Vergnügen - Die Tribute von Panem FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt