Kapitel 10

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Als ich die Augen aufschlage, überkommt mich ein wohliges, vorfreudiges Kribbeln. Voller Enthusiasmus schwinge ich meine Beine über den Bettrand und begebe mich pfeifend ins Bad. Heute ist der erste Trainingstag. Ich habe nur zwei Tage lang nicht trainiert und doch kommt es mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Ich muss den Wind in meinem erhitzten Gesicht spüren, wenn ich renne, meine Haare, die in meinem Nacken kleben. Ich brauche das Gefühl von Waffen in meinen Händen, denn genau das verleiht mir Macht. Ich muss Messerklingen blitzen sehen, während sie auf ihr Ziel zuschießen und ich muss meinen Gegner egeben stöhnen hören, wenn ich ihn im Ringen besiege. Aber vor allem muss ich heute die Tribute aus 2 und 4 kennenlernen. Ich habe ein gutes Gefühl. Ich glaube, sie werden das Bündnis eingehen, es wäre ungewöhnlich, wenn nicht. Ich lehne mich mit der Hüfte vors Waschbecken und sehe mich im Spiegel an. Meine Wangen sind errötet, meine Augen glitzern. Meine Haare fallen dank der Pflege des Vorbereitungsteam seidig gewellt über meine Schultern, nicht so störrisch wie sonst. Ich grinse mein übliches Lächeln, ehe ich mich abwende. Heute fühle ich mich erlöst, denn ich habe nicht nur die absurden Tage der Ankunft und der Eröffnung hinter mir und kann mich nun endlich körperlich belasten, sondern bin auch den Spielen einen Schritt näher gekommen. Wenn ich die restlichen Tribute erst mal in Augenschein genommen habe, kann ich mir auch ein genaueres Bild verschaffen. Schwungvoll öffne ich den Kleiderschrank. Es gibt eine bestimmte Trainingskluft, die alle Tribute tragen müssen. Sie hängt ordentlich am Bügel und als ich hinein schlüpfe, fühlen sie sich an wie meine Trainingsanzüge daheim. Die Hose ist schwarz, eng anliegend und aus einem dicken, elastischen Stoff. Das Oberteil liegt ebenfalls eng an, hat aber einen satten Rot-Ton. Die Ärmel reichen mir bis knapp über die Ellbogen, der Ausschnitt ist rund und nicht zu tief und auf meinem Rücken sowie auf meinen Schultern prangt eine 1. Ich fühle mich wohler als in den Klamotten aus dem Zug, wohler als in dem Diamantenkleid des vorherigen Abends. Diese Sachen würde ich auch zuhause anziehen, bevor ich in die Akademie gehe und diese Sachen fühlen sich zum ersten Mal auch an wie Hungerspiele. Sie erinnern daran, dass wir nicht hier sind, um tolle Kostüme zu tragen, sondern dass wir um unser Leben kämpfen müssen. Mit dieser Einstellung und einem breiten Grinsen auf den Lippen gehe ich zum Frühstück.

"Heute ist der erste Trainingstag." Shane klopft mit dem Löffel auf die Schale seines Eis, dann pellt er sie ab. Ich kaue mein Rührei mit Speck, schlucke, und nehme einen Schluck Tee. Toby hat heute noch gar nicht gesprochen, aber jetzt blickt er auf. "Ja." "Ihr werdet Verbündete suchen", sagt Mya. Das ist an uns beide gerichtet, aber sie schaut nur mich an und zwar mit demselben distanzierten, eisigen Blick wie all die Tage zuvor. Ich halte ihm trotzig stand. "Wir werden welche finden", nicke ich. "Aber achtet auch auf die anderen Tribute. Die außenliegenden Distrikte wirken immer ausgezehrt und schwach, ich weiß, aber sie sind zäh und echte Überlebenskämpfer. Manche von ihnen können sogar richtig gut kämpfen. Unterschätzt sie nicht", fügt Shane hinzu. Seine Stimme ist gedämpft, aber seine Augen leuchten. Er ist ein guter Lehrer und ich wünschte, er wäre mein Mentor und nicht Tobys. "Ich will mir sie eh alle genau anschauen", sage ich gleichgültig. "Wenn mir einer gefällt, frage ich ihn, ob er uns angehören will." "Wir dürfen aber nicht zu viele werden, Sky!", sagt Toby energisch und starrt mich an. Erst bin ich verwirrt, aber dann sehe ich in seinen Augen das blanke Entsetzen. "Wieso?" Ich zupfe an einem Blatt Petersilie, während ich ihn spitz ansehe. "Hast du Angst davor, oder was?" Für einen kurzen Augenblick sackt er in sich zusammen, fängt sich jedoch schnell. Wütend schneidet er in seinem Ragout herum. "Angst?" Er lacht spöttisch auf. Aber er lacht zu hell und zu laut. Er lügt, das weiß ich sofort. Ich habe ihn durchschaut. "Dann ist es doch nicht schlimm, wenn wir viele Verbündete haben. Eine Allianz ist dann besonders effektiv, wenn sie groß ist", sage ich schulterzuckend, um ihn auf die Probe zu stellen. Täusche ich mich, oder ist das Schweiß an seinem Haaransatz? Ich kann ein siegessicheres Grinsen kaum unterdrücken. "Wenn die Allianz zu groß wird, haben wir den Rest ratzfatz ausgelöscht. Und dann? Dann fallen wir übereinander her. Es wird schrecklich." Toby spricht so schnell, dass er sich verhaspelt. Auf einmal fängt Mya lauthals an zu lachen. "Toby", japst sie. "Glaubst du wirklich, alle Karrieros schaffen es bis zum Kampf der Stärksten? So wie du dich aufführst, wirst du sicher nicht dazu gehören, also mach dich mal locker." Sie schüttelt den Kopf und kichert weiter. Sie lacht ihn aus. Toby klappt den Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch im Trockenen. Dann aber verzieht sich sein Gesicht zu einer wütenden, verzerrten Grimasse. Shane und unsere Stylisten schweigen betroffen und verschreckt. Es kommt bestimmt nicht häufig vor, dass eine Mentorin einen Tribut so demütigt und ich bin fast soweit, Toby zu verteidigen. Aber dann denke ich daran, wie er mich hintergangen hat und ich spüre nichts als Schadenfreude. Das hat er dann davon. Auch Clarisse scheint an gestern Abend zu denken, denn sie sieht mich vorwurfsvoll an. "Könntet ihr versuchen, heute mal keinen Wirbel um euch zu machen und einfach das Training hinter euch zu bringen?" Ich werde vor Jähzorn so starr, dass ich bloß ein Nicken fertigbringe. "Es wäre sinnvoll, nicht nur das zu trainieren, was ihr könnt, sondern auch was neues auszuprobieren." Auch Shane hat seine Sprache wiedergefunden, auch wenn er angeschlagen klingt. "Natürlich." Ich zwinge mich zu einem Lächeln und stehe auf. "Können wir jetzt gehen?"

Das Trainingscenter ist gigantisch. Der Boden ist dunkel und glatt geschliffen, die Decken hoch. Riesige Lampen werfen bläuliches Licht bis in die letzten Ecken. Und dann die Waffen: Überall sind Schwerter, Speere, der Messerstand springt mir ins Auge. Puppen mit aufgenähten Zielscheiben sind im Überfluss vorhanden. Es gibt drei Boxsäcke und zwei Ringe, in denen man sich im Zweikampf üben kann, dann einen winzigen nachgestellten Wald, um Feuer machen oder klettern zu üben. Hinten gibt es sogar einen Stand für Bogenschießen. Dann natürlich eine riesige Pflanzenstation und eine mit Bildschirmen und verschiedenen Formen, die ich nicht kenne. Es gibt einen Parcours, den man überwältigen kann und außerdem Gewichte zum Heben. Um das ganze Spektakel herum ist eine Laufbahn. Und natürlich: Der Balkon oder wie auch immer man es nennen soll, wo die ganzen Spielmacher sitzen. Sie tragen violettfarbene Roben und sind nicht ganz so grotesk geschminkt wie die restliche Bürgerschaft des Kapitols. Seneca Crane, der oberste Spielmacher, steht vorn am Geländer, die Hände um das Metall gelegt. Er hat schwarze, kinnlange Haare und einen ebenso schwarzen Bart in Flammenform. Seine Robe ist nicht violett, sondern scharlachrot, wie Blut. Erst jetzt merke ich, dass er mich genau anschaut, als ich neben Toby durch die Halle schreite. Sein Blick auf mir zu spüren ist ungefähr so angenehm wie Myas Anwesenheit, deswegen konzentriere ich mich auf die Tribute, die in der Mitte der Halle auf uns warten. Sie haben sich in einem Halbkreis um eine große, athletische Frau gesetzt und sehen uns an. Wir sind die letzten. "Setzt euch", sagt die Frau. Sie stellt sich mit dem Namen Atila vor und beginnt dann, die Regeln des Trainings zu erklären. "Es wird nicht mit anderen Tributen gekämpft, an jeder Station gibt es Trainer, an denen ihr euch üben könnt. Mir ist klar, dass die meisten von euch sich gleich auf die gefährlichsten Waffen stürzen wollen, aber die Überlebensstationen solltet ihr nicht missen: Feuer entfachen, Pflanzenkunde, das alles sind Dinge, die euch in der Arena helfen werden. Die meisten sterben an Hunger, Kälte oder Dehydrierung, das sollte euch bewusst sein. Ansonsten gibt's um ein Uhr Mittagessen. Viel Erfolg." Atila nickt uns halbherzig zu und wendet sich ab. "Ihr könnt anfangen!" Und wie ich anfangen werde,  denke ich verbittert, während ich auf den Rücken der Tribute nach den Nummern 2 und 4 Ausschau halte.

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Das nächste Kapitel wird etwas spannender, weil dann wirklich Training ist. ♥♥ Wir findet ihr dieses? Sagt es in den Kommis. :)

mörderisches Vergnügen - Die Tribute von Panem FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt