Kapitel 1

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Der Himmel über der kleinen Stadt war wolkenverhangen und grau. Nebeliger Dunst zog durch die engen, dreckigen Gassen. Er durchtränkte alles- die kleinen Holzhäuser, den schlammigen Boden und die Gemüter der Stadtbewohner. Emsig gingen sie ihrer Arbeit nach, ohne dauerhafte Ablenkung oder einen tieferen Sinn dahinter. Es ging nur um das reine Überleben. Die meisten Menschen hier verdienten sich ihr weniges Geld als Reisbauern, Tabakverkäufer oder Handwerker. Nur selten kamen wohlhabende Herrschaften in diese Gegend des Landes.

Durch eben diese Straßen lief an diesem Abend der junge Hideki Kazumi. Seine Füße schmerzten bereits in den abgelaufenen Schuhen mit den dünnen Sohlen, in die sich Steine und Dreck bohrten. Den ganzen Tag war er durch seine Heimatstadt gelaufen, auf der Suche nach Käufern. Seine dünne, blasse Hand umklammerte die Tasche mit den restlichen Teigtaschen, die er nicht mehr hatte verkaufen können. Heute war kein guter Tag gewesen. Seine Mutter würde wütend sein. Den Blick gesenkt ging er an den dunklen Hütten entlang, bog auf eine der Hauptstraßen und verließ sie drei Abzweigungen später wieder. Das dunkle, fast schwarze Haar fiel ihm ins Gesicht und warf dunkle Schatten um seine Augen. Er fror ein wenig in der klammen Luft. Bestimmt würde er wieder geschlagen werden, wenn er nach Hause kam. So wie immer. Ein Zittern durchlief seinen dünnen Körper. Seine Schritte wurden immer zaghafter. Er wollte nicht nach Hause, nicht zu ihr. Doch er hatte keine Wahl, er musste überleben. Und seine Mutter brauchte ihn. Sein Magen knurrte. Wie gerne hätte er eine der Teigtaschen selbst gegessen, die er verkaufte, doch das war ihm strengstens verboten worden.

Hideki achtete kaum auf seine Schritte, als er plötzlich etwas um sich herum spürte. Es war eine kaum merkliche Veränderung in der Luft, nur eine Nuance. Er wusste nicht, was es war, noch hatte er es jemals zuvor gespürt, doch irgendetwas zog ihn in diese Richtung. Es wäre ja sowieso kein großer Umweg, er würde über die Brücke gehen und dann...

Etwas Weiches streifte seine Hand. Die Berührung war kurz, sehr kurz, kaum eine Sekunde dauerte sie, doch Hidekis Herz setzte einen Schlag aus. Nicht nur sein Herz, sein gesamter Körper verlor für eine Sekunde die Kontrolle. Überrascht schnappte er nach Luft, stolperte und schlug auf dem harten Boden auf. "Pass doch auf", hörte er die Stimme eines Jungen über sich schimpfen. "T-tut mir leid", stammelte Hideki und sah verzagt zu dem anderen auf. Was seine dunklen Augen erblickten, ließ sein Herz erneut aussetzen.

Vor ihm stand ein Junge, der ebenso gut ein Gott hätte sein können. Er war etwas größer als Hideki selbst, sehr schlank und seine helle Haut war sauber gepflegt. Er trug keine Schuhe, war nur mit einem hauchdünnen, teils durchsichtigen Kimono bekleidet. Er hatte kurzes, silberweißes Haar, das ihm vor eines der eisblauen Augen fiel. Das andere sah kalt auf Hideki herab. Den seltsamen Jungen umgab etwas wie ein göttliches schimmern. Er schien in der tristen Umgebung um ihn herum fast zu strahlen. Hideki hatte noch nie jemanden von solcher Schönheit gesehen. Er wollte den Jungen erneut berühren oder besser noch: von ihm berührt werden. Sein Körper verlernte zu atmen und er ertappte sich dabei, dass er sein Gegenüber anstarrte. Sofort senkte er unterwürfig den Blick. Der Junge seufzte genervt und wandte sich ab. "Immer dasselbe", murmelte er. Eilig versuchte Hideki aufzustehen, doch in der Hast öffnete sich seine Tasche und eine der eingepackten Teigtaschen fiel heraus- direkt vor die Füße des anderen. Ein unterdrücktes "Mist", rutschte aus Hidekis Mund. So konnte er sie nicht mehr verwenden. Der Junge sah auf das kleine Bündel herab, dann wanderten seine Augen abschätzig zu Hideki. "Nicht so hastig. Sonst verlierst du noch mehr." Hideki hielt sich schützend die Tasche vor die Brust. "Es tut mir leid", stammelte er. "Aber man kann sie bestimmt noch essen, sie ist noch warm", fügte er schnell hinzu. Der bildhübsche Junge lachte trocken.

"Wer will denn schon etwas essen, dass im Dreck liegt?" Hideki hörte kaum mehr zu. Wie gebannt hing sein Blick an dem dünnen Stoff, der die Hüften des anderen bedeckte. "Ist dir nicht kalt?", fragte er. Der andere sah über die Schulter zu ihm. "Natürlich ist mir nicht kalt", sagte er ernst. Seine Stimme klang seidig weich und doch traf Hideki jedes Wort wie ein Pfeil. "Hör auf mich anzustarren und hau endlich ab."
Gekränkt und eingeschüchtert eilte Hideki an dem unhöflichen Schönling vorbei und machte sich auf den Heimweg.

Erst, als Hideki schon lange verschwunden war, wagte der weißhaarige Junge aufzuatmen. Er hatte nicht aufgepasst - erneut. So ein Fehler durfte ihm nicht noch einmal passieren, sonst würde der Chef sehr wütend werden. Er schlang die Arme um seinen Körper. Die kalte, klamme Abendluft setzte ihm mehr zu, als er es sich wünschte. Doch er war es gewohnt. Seine Kunden wollten es so. In ein paar Stunden durfte er endlich zurück ins Warme. Seine Füße schmerzten bereits vor Kälte. Sein Blick streifte die am Boden liegende Teigtasche. Er hatte solchen Hunger. Verstohlen sah er sich um. Niemand außer ihm war an der Brücke. Hastig bückte er sich, passte auf, dass seine Ärmel nicht im Dreck schleiften und hob das kleine Bündel auf. Inzwischen war das Essen bestimmt kalt geworden. Sein Magen knurrte leise. Niemand würde es wissen, wenn er jetzt einfach... Seine schmalen Finger lösten das dünne Seil, welches das Papier zusammenhielt. Der Fremde hatte Recht gehabt - im Inneren war die Teigtasche noch sauber, nur die Verpackung hatte Schmutz abbekommen. Der leckere Duft des Essens strömte in seine Nase. Selbstgemachtes warmes Essen. Für ihn war das keine Selbstverständlichkeit. Vorsichtig führte er die kleine Portion an seinen Mund und probierte. Zarter Teig, feines Gemüse, nicht zu lange gebraten. Es schmeckte köstlich. Fast wünschte er, der fremde Junge wäre noch bei ihm.

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