Hideki wachte am nächsten Morgen wie gewohnt auf. Noch ahnte er nichts. Das Haus war ganz still. Gähnend setzte er sich auf und schlug die dünne Decke nach hinten. Schwaches Licht fiel durch das Fenster auf den Boden seines Zimmers. Der Junge dachte an seinen Traum zurück und musste lächeln. Der Schlaf hatte ihm erlaubt, Sakurano wiederzusehen, doch die Illusion von Glück war mit seinem Aufwachen zerschlagen worden. Es war ja auch egal. Heute würde er Sakurano wiedersehen und sich dafür entschuldigen, gestern verhindert gewesen zu sein. Bestimmt würde sein Freund das verstehen. Hideki konnte es jetzt schon kaum mehr erwarten, Saku endlich wieder berühren zu dürfen. Die Trennung von knapp einem Tag schmerzte unangenehm in seinem Inneren. Es stach und pikte in sein Herz.
Aber dafür musste seine Mutter ihn erst wieder freilassen. Hideki schluckte. Hoffentlich war sie heute besser gelaunt. Naja, spätestens zum Frühstück brauchte sie ihn. So lange würde er einfach warten. Still und unauffällig. So würde er am wenigsten Ärger auf sich lenken. Mit diesem Entschluss zog er sich an, um sich direkt darauf wieder im Bett zu verkriechen. Um sich die Zeit zu vertreiben, stellte er sich einfach vor, dass Sakurano neben ihm läge. Allein die Vorstellung von dessen nacktem Körper reichte aus, um sein Herz rasen zu lassen.
Ganz mit sich selbst beschäftigt, bemerkte Hideki nicht, dass es auch nach Voranschreiten der Zeit noch ruhig im Hause blieb. Nach einigen Stunden begann er sich allerdings zu wundern. Seine Mutter sollte doch langsam wach sein? Er horchte. Nichts. Vielleicht brauchte sie heute mehr Erholungsschlaf als sonst, das musste es sein. Genau. Diese Vorstellung tröstete ihn für eine Weile, doch gegen Mittag begann er, sich Sorgen zu machen. Zahlreiche Ausreden schwirrten ihm im Kopf herum. Bestimmt hatte sie sich endlich überwunden, nach all den Jahren aus dem Haus zu gehen und er hatte sie einfach verpasst? Sie wollte ihn überraschen? Gab es einen heimlichen Verehrer? Verehrer. Saku. Das Bedürfnis hörte nicht auf. "Mutter? Hallo?" Seine Stimme klang viel zu laut in dem kleinen Raum. Hideki bekam keine Antwort. "Bist du da? Halooohooo?" Schweiß rann über seine Stirn. "Mein Verhalten tut mir wirklich leid! Bitte, lass mich raus und dann werde ich mich sofort an die Arbeit machen! Ich verkaufe heute das Doppelte, versprochen. Mutter, bitte!" Was, wenn sie ihn einfach vergessen hatte? Nein, das konnte nicht sein. Sie hasste ihn, aber er war doch schließlich ihr Sohn, oder? Oder? "Mutter! Bitte, biiittteee!! Jetzt antworte endlich, hallo? Hallo? Es tut mir leid, es tut mir leid!" Seine Stimme überschlug sich fast.
Es blieb still. Hidekis Nervosität wuchs. Als er gegen Abend noch immer nichts hörte, bekam er Angst. Er fing lauter an zu schreien, schlug gegen die Tür und warf Sachen dagegen, doch sie blieb solide. Panisch schrie er nach Hilfe, nach seiner Mutter, nach Sakurano. Doch niemand kam. Er war ganz alleine in dem Zimmer. Hideki begann zu schluchzen. Die Tränen rannen über sein Gesicht und kurz darauf weinte er heftig, heulte laut und bitterlich. Man hatte ihn vergessen. Er würde Sakurano nicht wiedersehen und niemand interessierte sich für sein Leid.
Das Licht schwand und Hideki weinte noch immer bitterlich. Er hörte erst auf, als ihn der Schlaf übermannte.
Auch am Tag darauf gab er nicht auf, hämmerte an die Tür, schrie aus Leibeskräften, bis ihm die Stimme versagte. Es war nicht so, dass ihn niemand hörte. Die Nachbarn und Passanten bekamen sein Wehklagen mit. Zu Hidekis Pech lebte er allerdings in einer sehr armen und nicht gerade gebildeten Bevölkerungsschicht. Die Reisbauern hielten das Heulen für einen bösen Geist und hüteten sich demnach strengstens, dem Haus zu nahe zu kommen. Die unerklärlichen Phänomene wurden den Geistern und Yokai wie Saku zugeschoben. Und so weinte der arme Junge tagelang alleine in seinem Zimmer.
Hunger. Nagender Hunger und Durst. Hideki hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Sein Körper wurde ständig von Heißhunger gebeutelt und er krümmte sich eng zusammen, um das nagende und beißende Gefühl auszuhalten. Ihm war schwindelig. Oft verschwamm ihm die Sicht vor Augen und sein Kopf dröhnte. Dazu klopfte sein Herz wie wild. Von Minute zu Minute wurde er schwächer. Hidekis verstand es nicht. Wieso wollte ihm denn niemand helfen? Wieso kam denn keiner zu seiner Rettung? Schlaf und Wachzustände wechselten sich ab. Teilweise konnte er kaum noch sagen, ob er wach war. Sein Körper gab nicht so schnell nach und der Junge litt Qualen. Hideki fürchtete sich. Lange würde sein Körper diese Hungerqualen nicht verkraften können, das wusste er. Und genau davor hatte er Angst. Hideki wollte nicht sterben, noch nicht. Er wollte Leben, an Sakuranos Seite. Doch der übersinnliche Durst vertilgte seinen Überlebenswunsch Stück für Stück. Es trieb ihn nach und nach in den Wahnsinn. Mehrmals hätte er schwören können, dass sich sein Schatten selbstständig bewegte und Hideki fing an, wirres Zeug vor sich hin zu reden, um die Stille zu ertragen. Dann weinte er tränen - und kraftlos und danach verfiel er wieder in tiefen Schlaf. Er hatte Angst, solche Angst.
Die Tage zogen vorbei. Hideki konnte sich inzwischen kaum noch rühren. Seine abgemagerten Glieder lagen schwer unter der Decke, sein Blick starrte an die Decke. Momentan musste es Nacht sein, das Licht war weg. Licht. Dunkelheit. Dunkel. Schwarz. Es war sowieso alles egal. Saku. Licht. Augen. Blau. Leuchten. Licht. Dunkel. Durst. Hunger. Hunger. Saku. Hunger. Er atmete schwach, seine Lider wurden erneut schwer. Nur noch ein wenig Schlaf, und dann...
War er noch wach? Hatte er geschlafen? Dunkelheit. Schatten. Dann Leere. Weiße Leere.
Bildfetzen zogen an seinem inneren Auge vorbei. Brücke, Licht, Sakurano. Wie hell und gutaussehend er war. Er lächelte. Sakus Lächeln war umwerfend. Licht. Finger, die über Haut strichen. Zurückfliegendes Haar und Teigtaschen, rollend. Sie rollte und rollte und rollte...
Er musste wieder geschlafen haben.
Ein, aus. Ein, aus. Ein... atmen. Immer weiter.
Ein... Es war so anstrengend. Aus. Er wollte nicht mehr. Ein. Konnte nicht mehr. Aus. Keuchendes Atmen. Aus.
Sakus Augen. Ein. Aus. Ein.
Er musste einfach nur wieder einschlafen. Aus.
Aber dann wäre alles...
ein...
Und er würde Sakurano...
Aus.
Sakurano. Zu ihm würde er gehen. Nur noch eine kleine Ruhepause, dann wäre er bestimmt wieder in der Lage, aufzustehen.
Ein.
Hideki schloss die Augen. Sakurano würde ihm helfen. Er würde ihn küssen und dann wäre dieser Albtraum vorbei.
Aus.
Traum.
Ja. Das war es.
Ein.
Dann würde alles viel einfacher werden.
Aus.
Er brauchte keine Angst zu haben.
Ein.
Er musste nur aufwachen.
Aus.
Ein letztes Mal zogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln zusammen.
Ein.
Aus.
Ein.Aus.
Ein.
Aus.
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Elysion
Romance"Er wusste nicht, was es war, noch hatte er es jemals zuvor gespürt, doch irgendetwas zog ihn in diese Richtung. Es wäre ja ohnehin kein großer Umweg, er würde über die Brücke gehen und dann..." Eine japanische Kleinstadt im 16. Jahrhundert. In eine...