Kapitel 3

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Wie immer lag leichter Nebel über dem kalten Boden, als Sakurano an der kleinen Brücke auf Hideki wartete. Das Licht schwand langsam und spiegelte sich noch schwach im Fluss unter ihm. Die Jacke seines neuen Bekannten hatte Sakurano sorgsam gefaltet über den Brückenrand gelegt. Ein Windhauch streifte sein Gesicht und zerzauste die silbernen Haare ein wenig. Hoffentlich hatte Hideki ihre Verabredung nicht vergessen. Verabredung. Er lächelte. So etwas hatte er noch nie außerhalb seiner Arbeit gehabt.

Endlich sah er Hideki um die Straßenecke biegen. Der Junge sah auf, erblickte Sakurano und blieb kurz stehen, bevor er eilig auf ihn zukam. Seine Augen strahlten vor Freude.
"Guten Abend", grüßte der weißhaarige ihn. "Hallo", antwortete Hideki mit seiner zarten Stimme und blieb mit etwas Abstand stehen. Saku lächelte leicht. Wie schnell er lernte.
"Hast du an das Essen gedacht?", fragte er. Hideki zuckte leicht zusammen, dann nickte er eilig und stellte ein kleines Päckchen auf die Steinmauer, welche die Brücke abgrenzte. "Ich hoffe, du magst Reisbällchen?" Seine Stimme war so zart und unsicher. Irgendwie gefiel das Sakurano.

"Wenn sie gut zubereitet sind", antwortete er. Dann trat er an die Mauer und nahm sich einen der kleinen weißen Reisbälle. Sie schmeckten ausgezeichnet. Der kleine Junge hatte ein wirkliches Talent für Speisen. Hideki sah ihm erwartungsvoll zu. "U-und?" Sakurano schluckte seinen Bissen herunter, sah ihn an und sagte mit seiner seidig weichen Stimme: "Sie sind wirklich nicht schlecht." Hideki atmete erleichtert aus. "Ich hatte schon befürchtet, du würdest sie nicht mögen", gab er zu. Sakus Blick verweilte auf den dunklen Augen. "Würde ich sie dann essen?" Schuldbewusst senkte Hideki den Kopf und murmelte: "Nein."

Sein Herz schlug erneut wahnsinnig schnell und es fühlte sich an, als wolle sein ganzer Körper zerspringen. Was war das bloß? Bis gerade eben war alles in Ordnung gewesen! Schüchtern hob er den Kopf und betrachtete Sakurano beim Essen. Wie konnte ein Mensch bei so einer banalen Tätigkeit derart ästhetisch aussehen? Das war doch verrückt! Doch die geschmeidige Art, wie er sich galant die letzten Reiskörner von den Fingern leckte und sich ein zweites Reisbällchen nahm, raubte Hideki den Atem. Er aß die Reisspeise nicht nur, er genoss sie regelrecht. Ganz bedächtig und mit viel Zeit ließ er sich die Bissen im Mund zergehen. Hideki ertappte sich bei dem Gedanken, selbst ein Reisball sein zu wollen. Augenblicklich färbten sich seine Wangen zart rot.

Sakurano sah ihn an. "Man könnte meinen, du hast noch nie jemanden beim Essen gesehen", sagte er. Hideki nickte wie betäubt, dann schüttelte er den Kopf. "Ja. Nein! Verzeih bitte!" Sakurano lachte. "Wie niedlich. Du wirst ja ganz rot." Hideki blieb die Luft weg. Niedlich! Er! Ob er sich darüber freuen sollte, wusste er allerdings nicht.

Sakurano beendete seine Mahlzeit und lehnte sich erneut über die Brüstung. "Du kannst deine Jacke zurückhaben. Ich habe dir das Geld für die letzten zwei Tage dazu gelegt", meinte er. Hide trat zögernd neben ihn. "D-du musst dafür doch nicht bezahlen", stammelte er. Sakurano sah ernst in die Ferne. "Man muss für alles bezahlen, Hideki. Du solltest nichts umsonst geben. Auch nicht mir, hörst du?" Hideki hörte zu, aber die Worte erreichten ihn kaum. Sakuranos wehendes Haar schaltete alle anderen Gedanken aus.

"Du..." Was wollte er eigentlich sagen? Verlegen sah er zu Boden. "Ich was?", fragte Saku. "Du trägst nie Schuhe", rettete sich Hideki schnell. Der andere seufzte. "Ich soll keine tragen." Verwundert sah Hideki ihn an. "Aber wieso? Dir muss doch kalt sein in diesen... Kleidern." Saku sah ihn kalt an. "Das ist privat. Vergiss es und kümmere dich um dich selbst." Hideki schluckte. Wie konnte jemand so schnell von Freundlichkeit zu Kaltherzigkeit wechseln? Sakurano sah auf das Wasser herab. "Ich muss sowieso gleich gehen." "Gehen? Etwa nach Hause?" Saku hob kaum den Blick. "Man könnte es so nennen. Und wohin musst du? Auch nach Hause?" Er betonte die letzten Worte extra geschmeidig. Hideki nickte zögerlich. "Man... könnte es so nennen", wiederholte er schüchtern. Die blauen Augen sahen ihn von der Seite an. "Immerhin hast du ein Zuhause. Sei doch froh." Hide schüttelte den Kopf. "Eigentlich will ich gar nicht mehr dort hin", flüsterte er. Sakurano drehte sich zu ihm. "Hey. Was ist los?", Fragte er. "D-das ist privat", versuchte Hideki sich zu wehren. "Was ist los?" Sakus Tonfall duldete keinen Widerspruch.

Unbehaglich begann Hideki zu erzählen. "S-seit mein Vater uns vor einigen Jahren verlassen hat, ist meine Mutter dem Alkoholkonsum verfallen. Sie lässt ihren ganzen Frust an mir aus und... Ich verdiene das Geld für uns. Meistens schläft sie, wenn ich komme, dann habe ich Glück. Aber wenn sie wach ist, dann..." Seine Stimme schwand fast. "Dann wünschte ich nur noch, ich wäre unsichtbar. Oder zumindest nicht von fester Gestalt, damit sie mich nicht mehr schlagen kann." Sakurano hatte während Hides Erzählung nicht ein einziges Mal den Blick von ihm genommen. "Es klingt fast, als wolltest du ein Schatten werden", merkte er an. Der Junge mit den dunklen Augen nickte zaghaft. "Ich mag Schatten", gab er zu. "Früher dachte ich immer, mein Schatten wäre eine Art Beschützer für mich, der immer an meiner Seite bleibt und für mich da ist." Gott, er klang so albern. "Du hast nicht viele Freunde, oder?" Saku klang fast gelangweilt. Hideki schüttelte den Kopf. "Ich hatte nie wirkliche Freunde." Vorsichtig sah er den schönen Jungen an. Sakurano drehte den Kopf zu ihm. "Dann such dir welche und vergeude deine Zeit nicht bei mir."

Hidekis Herz schlug wild. "H-hast du denn Freunde?", Fragte er. Der Blick des Jungen schweifte in die Ferne. "Nein.", antwortete er schlicht. "Und bevor du fragst - du willst nicht mit mir befreundet sein. Glaub mir." Hidekis Körper fühlte sich an, als hätte er einen Mauerstein verschluckt. "A-aber wieso denn nicht?" "Du willst es nicht." Hide schüttelte den Kopf. "D-doch!", stammelte er. Sakurano wandte sich ab. "Das denkst du nur", murmelte er traurig. "Du kennst mich nicht einmal richtig."
"Dann lass mich dich kennenlernen. Wenn du mich brauchst... werde ich immer für dich da sein", versuchte Hideki es erneut. Momentan wollte er nichts sehnlicher als das. Sakurano sah über die Schulter zu ihm zurück. "Ich brauche dich aber nicht. Es tut mir leid, Hideki. Du solltest mich besser schnell vergessen." Dann wandte er sich ab und ging.

Hideki sah ihm eingeschüchtert und verwirrt nach. Täuschte er sich, oder hatte er tatsächlich Trauer in Sakuranos blauen Augen gesehen?

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