Am nächsten Tag stand Hideki wie gewohnt noch vor Sonnenaufgang auf. Er verließ sein kleines, schattiges Zimmer und begab sich lautlos in die Küche, um neues Essen herzustellen. Die Küchenarbeit war für ihn tägliche Routine. Seine Mutter hatte ihn nicht zur Feldarbeit angeheuert, daher verdiente er nun auf diese Art seinen Lebensunterhalt. So konnte er einigermaßen in Ruhe leben und sie gab sich ihrem Alkoholkonsum hin. Hideki war das ganz recht so - jede Sekunde, die er nicht im Haus war, konnte sie ihm nicht wehtun. Jeder seiner Handgriffe saß, alles war an seinem gewohnten Platz. Sorgfältig verpackte er die einzelnen Teigtaschen und Reisbällchen, steckte sie in seine Tasche und machte sich leise auf den Weg. Heute hatte er Glück: Die Sonne schien und vertrieb den Nebel ein wenig.
Seine übliche Runde verlief ohne weitere Ereignisse, und so kehrte er gegen Abend wieder heim. Auf dem Weg nahm er absichtlich den selben Umweg wie am Vortag, um möglicherweise dem schönen Jungen erneut zu begegnen. Wieso er das wollte, wusste Hideki selbst nicht.
Schon mehrere Meter entfernt sah er den anderen. Er stand am selben Brückenvorsprung wie gestern und sah nachdenklich auf den Fluss. Sofort schlug Hidekis Herz schneller. Der Junge trug heute einen anderen Yukata, jedoch genauso durchsichtig wie jener am Vortag. Bei dem Körper kann er sich das ja sogar erlauben, dachte Hideki und errötete zart. Heute würde er garantiert nicht hinfallen! Er würde einfach an dem anderen vorbeigehen und sich nicht blamieren. Mit jedem Schritt schlug sein Herz wilder, es drohte fast zu zerspringen. Herrgott! Was war bloß mit ihm los?
Hideki ging in gemäßigtem Tempo an dem Jungen vorbei, den Blick bewusst auf seine Füße gerichtet. "Hallo", grüßte er schüchtern im Vorbeigehen. Sprich mich an, dachte er. Bitte sprich mich an und lass mich deine Stimme noch einmal hören.
"Hallo." Der Weißhaarige grüßte ihn auf die übliche abweisende Art. Hideki ging weiter. Innerlich hoffte er auf ein Wunder, auf irgendeinen Zufall, der das Gespräch fortsetzen könnte. Der andere Junge überlegte derweil, ob er vielleicht nicht doch nach ein paar Teigtaschen fragen sollte. Dann müsste er allerdings zugeben, dass er am Vortag trotzdem das Essen zu sich genommen hatte, und das ließ sein Stolz nicht zu. Also schwieg er schweren Herzens und starrte das trübe Wasser im Fluss an.Hidekis Herz beruhigte sich, sobald er die Brücke verlassen hatte. Innerlich fühlte er sich ein wenig verletzt, da der Fremde wohl offensichtlich kein Interesse an ihm hatte. Aber wer hätte das schon? Mit seiner kleinen, dünnen Statur, den runden dunklen Augen und dem für Japan typischen dunklen Haar war er absolut nichts Besonderes. Überhaupt nicht. Dazu war er über alle Maße schüchtern und hatte deshalb auch keine Freunde, er war untauglich für körperliche Arbeit und entsprach einfach nicht dem Bild Mann, dass die Gesellschaft um ihn herum gerne sehen würde. Warum sollte also dieser wunderschöne Junge, der Inbegriff von Schönheit schlechthin, freiwillig mit ihm reden? Hidekis Augen glänzten feucht bei dem Gedanken, dass er niemals aus seinem miserablen Leben entkommen würde.
In Hidekis Heimatstadt passierte nicht oft etwas Außergewöhnliches. Ab und zu reisten noble Geschäftsmänner in die wohlhabenderen Teile der Stadt und durchquerten dabei die Gassen der Nebenbezirke, doch sonst blieb Aktivität meist aus. Das Leben beschränkte sich ausschließlich auf die Arbeit, und exakt das tat auch er. Mehrere ereignislose Tage verstrichen und der kalte (dennoch schöne) Junge tauchte nicht mehr auf. Hideki lief trotzdem jeden Tag hoffnungsvoll über die Brücke nach Hause. Er wusste noch immer nicht, wieso, doch er konnte das Gefühl von ihrem ersten Treffen nicht vergessen. Es hatte sich fast so angefühlt, als würde der Teil, der seinem Leben endlich Sinn einhauchen würde, direkt vor ihm stehen. Und in seinen knapp dreizehn Jahren hatte es nicht viel Sinn darin gegeben.
An diesem Tag (es war der Erste des Monats) machte er eine längere Tour, um bis zu den belebteren Handelsstraßen der Oberschicht vorzudringen. Vielleicht würde ihm das ein wenig mehr Profit einbringen. Leider konnte er solch weite Strecken nur selten auf sich nehmen, da seine Vorräte sonst nicht reichen würden. Heute war exakt so ein Tag, und so stiefelte er voller Hoffnung die Straßen entlang. Der Boden war in der Nacht gefroren und eine dünne weiße Eisschicht lag über dem Dreck. Zum Glück hatte er an einen warmen Mantel und dicke Schuhe gedacht, bevor er aufgebrochen war. Die Wintermonate konnten schneidend kalt sein.
DU LIEST GERADE
Elysion
Storie d'amore"Er wusste nicht, was es war, noch hatte er es jemals zuvor gespürt, doch irgendetwas zog ihn in diese Richtung. Es wäre ja ohnehin kein großer Umweg, er würde über die Brücke gehen und dann..." Eine japanische Kleinstadt im 16. Jahrhundert. In eine...