Feine Schneeflocken fielen leise vom Himmel. Es war Weihnachten.
In den Fenstern sah man glückliche Familien um einen Weihnachtsbaum sitzen. Doch ihr Glück erreichte mich nicht.
Kälte biss mir ins Gesicht. Ich zog meinen Mantel enger um mich und lief weiter. Meine Schritte knirschten im Schnee. Sonst war es ruhig.
Ich beobachtete meine Atemwölkchen. Leicht schwebten sie durch die Luft, doch dann lösen sie sich auf.
Wie ich.
Es gab eine Zeit, in der mein Lächeln echt gewesen war. In der ich von Menschen umgeben gewesen war, die ich liebte.
Doch sie waren plötzlich verschwunden. Hatten sich aufgelöst, wie meine Atemwölkchen. Und mit ihnen ein Teil von mir. Ein großer Teil.
In der Ferne läuteten die Kirchenglocken.
Letztes Jahr hatte ich um diese Zeit mit meinem Mann an der Hand und meiner Tochter im Arm den Gottesdienst verlassen. Munter hatten wir über unsere Geschenke spekuliert.
Kurz darauf waren sie gegangen. Hatten mich zurückgelassen.
Zitternd atmete ich die kalte Luft ein.
Da endlich war ich angekommen. An der Bank am See.
Vorsichtig wischte ich den Schnee beiseite und setzte mich.
Alte Erinnerungen durchströmten mich.
Auf dieser Bank hatte ich gesessen, als ich ihn kennengelernt hatte.
Auf dieser Bank hatte ich gesessen, als wir uns das erste mal geküsst hatten.
Und schließlich hatte er mich auf dieser Bank gefragt, ob ich seine Frau werden wolle.
Eine einsame Träne rollte meine Wange hinab, tropfte in meinen Schal.
Ein Geschenk von ihm.
Mein Herz sehnte sich nach ihnen. Nach seiner zweiten Hälfte. Es drängte mich dazu, zu ihnen zu gehen. Ihnen näher zu sein, vielleicht sogar endlich wieder komplett.
Langsam stand ich auf und ging das Ufer hinunter.
Hier sollte es geschehen. An dem Ort, an dem alles begonnen hatte.
Ein Knacken ertönte, als ich die Eisfläche betrat. Doch sie hielt mich.
Ich machte noch einen Schritt. Dann blieb ich stehen. Sah mich noch einmal um. Ein stummer Abschied.
Da spürte ich es. Es war nur ganz leicht, doch es war da.
Eine Wärme. Seine Wärme. Er schien mich festzuhalten, so wie früher.
Ein Arm um meine Schultern, der andere um meine Tallie.
Ich hatte mich immer gegen ihn gelehnt, meinen Kopf auf seiner Schulter abgelegt und seine Nähe genossen.
Ich hatte geglaubt, es nie wieder fühlen zu können.
Doch mir war eine letzte Chance gegeben worden.
Ich entspannte mich.
Nahm seine Wärme in mir auf.
Und da wurde es mir klar.
Er musste gehen, wie unsere Tochter mit ihm.
Doch ich hatte die Möglichkeit, weiterzuleben.
Sie waren zwar gegangen, doch waren sie immernoch in meinem Herzen.
Lebten mit mir.
Und solange ich lebte, lebten sie weiter.
Das erste Lächeln seit langem legte sich auf meine Lippen.
Ich drehte mich um und ging in das Leben, das mich erwartete.

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NouvellesAlles hat seine eigene Geschichte. Manchmal sieht man sie auf den ersten Blick, doch meist bleibt sie verborgen.