Die erste Totenschau

824 74 4
                                    

Stundenlang wandere ich durch den Wald, immer darauf bedacht mich so leise wie möglich zu bewegen und keine Spuren zu hinterlassen. Der ganze Wald sieht aus wie aus einem Märchenbuch. Goldgelbe und strahlend rote Blätter an den Bäumen, hin und wieder mir unbekannte Singvögel, die eine berauschende Melodie zwitschern, bunte Schmetterlinge. Man könnte meinen man sei in einem wunderschönen Traum. Aber genau das ist das Problem. Es ist ein wunderschöner Albtraum. Ich muss zugeben, die Spielmacher haben sich die perfekte Arena ausgedacht, die perfekte Falle. Die Früchte an den Bäumen rufen fast nach mir, dass ich sie probieren soll, so erscheint es mir zumindest. Aber genau aus diesem Grund tue ich das nicht. Ich habe gesehen, was mit dem Mädchen passiert ist, die an der Blume gerochen hat, all das ist das reinste Gift.

In dem Moment knallt eine Kanone, dann noch eine. So geht es weiter, achtzehn Mal. Das Blutbad am Füllhorn ist wohl vorbei. Achtzehn sind schon tot. Wären das hier normale Spiele, wären sie schon fast vorbei, aber stattdessen habe ich jetzt noch neunundzwanzig weitere Gegner, die sterben müssen, damit ich hier raus komme. Darunter auch Maysilee. Ob sie überlebt hat? Ja,bestimmt hat sie das. Sie ist nicht dumm. Was sie wohl beim Training gezeigt hat? Wenn man aus 12 kommt sind die Vorurteile schon von vorneherein geklärt, es ist so noch schwieriger eine gute Bewertung zu bekommen, aber sie hat es trotzdem geschafft. So wie ich auch. Ich habe sie am Füllhorn nicht gesehen, es waren einfach zu viele Menschen, aber hat sie es genauso wie ichs chon vorher geschafft abzuhauen oder musste sie sich den Weg frei kämpfen? War sie gezwungen zu töten?

Plötzlich bin ich wieder zurück am Abend auf der Dachterasse.

"Ist es nicht verrückt, wie sie es feiern, dass wir sterben werden?" Sie hatte mich bemerkt, ohne dass sie sich umgedreht hatte.

"Haymitch, ich habe Angst", meinte sie und sah hinunter zu den Kapitolbewohnern die singend und tanzend auf der Straße herum liefen.

"Das hat jeder von uns, die Chance ist groß, dass wir in zwei Tagen schon tot sind", erwiderte ich und stellte mich neben sie.

"Das meine ich nicht", sie sah mich mit ihren blauen Augen ernst an, "ich habe schon mit dem Tod abgeschlossen, ich weiß, dass ich es nicht überleben werde. Aber ich habe Angst davor, dass ich mich zu etwas verändere, was ich nicht sein will."

Zu etwas verändern. Ich weiß, was sie meint. Wir werden gezwungen sein zu töten, anderen Menschen das Leben zu nehmen. Wieviele Familien werden durch die Spiele zerstört? Wievielen Eltern werden die Kinder genommen und bei wievielen werde ich mit Schuld sein? Es ist grausam, aber die Wahrheit ist, dass wir es nicht ändern können.

"Was ist, wenn dich jemand in der Arena angreift? Du wirst versuchen ihn umzubringen, weil du sonst selbst sterben würdest. Hättest du die Chance dazu, würdest du es tun, in diesem Moment würdest du nicht darüber nachdenken, dass du jemandem das Leben nimmst, der nur selbst versucht am Leben zu bleiben. Später wird es dir klar werden, aber dann ist es schon zu spät. Niemand wird es dir übel nehmen, es war reiner Selbstschutz, aber trotzdem hast du jemanden ermordet. Ich will nicht soetwas werden. Früher oder später wird es dazu kommen, aber ich will es nicht." Sie starrt wieder auf die Straße.

"Keiner von uns will das, aber so traurig es auch ist, so sind die Spiele", antwortete ich und könnte mich im selben Moment dafür ohrfeigen, dass ich das gesagt habe. Sofort verschloss sich ihr Gesicht und sie dreht mir den Rücken zu. Stumm lief sie zur Treppe, die wieder in das Apartment zurück führte, blieb aber dann kurz davor stehen und drehte sich noch einmal um.

"Ich wünschte, wir wären nicht gemeinsam hier, Haymitch", flüsterte sie, drehte sich dann aber hastig um und rannte die Treppe hinunter. Die Träne, die ihr über die Wange lief, konnte sie aber nicht mehr verstecken.

Ich weiß immer noch nicht, warum sie geweint hat und war auch zu feige noch zu ihr zu gehen. Ich hatte wohl Angst vor einer Abweisung und ebenso den Grund dafür zu erfahren. Ich wollte nicht, dass sie mir wichtig wird, obwohl es schon längst zu spät war. Bei ihren Worten wurde es mir wahrscheinlich klar und ich wollte es nicht wahr haben.

Sie sagte, sie habe Angst davor sich zu verändern, Angst vor sich selbst. In Gedanken bei Maysilee durchstreife ich die Wälder und bemerke kaum, wie es langsam dunkler wird und werde erst wieder in die Realität gezogen, als die Hymne laut durch die Arena schallt. Die erste Totenschau der 50. Hungerspiele beginnt. Als erstes erscheinen die Bilder der beiden Mädchen aus 3, dann jeweils ein Junge und ein Mädchen aus 4. Das bedeutet es sind noch zehn Karrieros übrig. Ich wusste ja, dass die aus 4 nicht überleben werden, aber gleich am ersten Tag ist schon etwas überraschend. Weiter geht es mit allen aus 7 und 9, beiden Jungs und einem Mädchen aus 10, allen aus 11 und letzten Endes noch Mike und Chrisie. Maysilee lebt also wirklich noch. Es sollte mich ja eigentlich nicht freuen, denn so ist die Chance größer, dass wir uns in der Arena begegnen und genau das passiert, was sie mir vorausgesagt hat. Einer von uns wird den anderen töten und sich erst später darüber im Klaren sein, was er eigentlich getan hat. Aber soweit muss es ja nicht kommen, vielleicht könnten wir uns auch verbünden. Es ist eine naive Vorstellung, denn einer muss sterben, damit der andere überleben kann, aber es ist die einzige Hoffnung an die ich mich im Moment klammern kann.

Was mich aber wundert ist, dass ich einundzwanzig Bilder gesehen habe, aber gehört nur achtzehn Kanonenschüsse. War ich so unaufmerksam, dass ich tatsächlich drei Kanonen überhört habe? Es ist ein Wunder, dass ich nicht angegriffen wurde, wenn ich so wenig auf mein Umfeld geachtet habe! Anscheinend habe ich einen großen Vorsprung, aber nochmal werde ich nicht so viel Glück haben.

Mittlerweile ist es stockfinster, das bedeutet, die Karrieros werden beginnen zu jagen. Die Frage ist nur, ob sie am Berg auf der anderen Seite der Arena sind oder im Wald. Egal wo, ich denke es ist trotzdem sicherer für mich, wenn ich auf einem Baum schlafe. Ich klettere auf den, der am hässlichsten aussieht. Ich weiß nicht, ob es eine gute Taktik ist, aber alles schöne ist her gefährlich, vielleicht bedeutet das, dass alles unperfekte einigermaßen sicher ist. Vielleicht irre ich mich, aber eine andere Wahl habe ich sowieso nicht.

Sobald ich einigermaßen bequem in einer Astgabel liege, schlafe ich ein. Aufgeweckt werde ich von einem schrecklichen Schmerz in meinem Arm. Schreiend schlage ich die Augen auf und entdecke ein flauschiges goldenes Eichhörnchen, dass seine großen Fangzähne tief in meinen Arm gebohrt hat.

Haymitchs Spiele- 50. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt