Die Klippe

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Zuhause in 12 gibt es kaum Menschen, die mir nahe stehen. Ich habe keine Freunde, mit denen ich neben der Schule meine Zeit verbracht hätte. Keine Kumpels, mit denen ich umher gezogen wäre. Schon immer gab es nur meine Mum, meinen kleinen Bruder und mich. Für mich war das immer in Ordnung. Ich wollte keine oberflächlichen Freundschaften pflegen müssen, nicht nett sein und mich bei anderen einschleimen, nur um als beliebt angesehen zu werden. 

Umso seltsamer ist es jetzt, eine Verbündete zu haben. Seit klar war, dass ich hier landen werde, in der Arena, in der ich als Einziger übrig bleiben muss, wusste ich, dass ich auch hier keine Verbindung zu den anderen Mittributen aufbauen möchte. Wenn ich schon zuhause keinen um mich haben wollte, wie soll es dann funktionieren, wenn klar ist, dass derjenige sterben muss, damit ich leben kann?

Und doch wandere ich jetzt schon mehrere Tage mit Maysilee umher und beginne ihre Gesellschaft angenehm zu finden. Wir reden nicht viel, haben beide unsere innere Mauer aufgezogen, wollen nicht zu nah an den anderen heran treten. Und doch ist es besser, als ständig alleine zu sein.

Unsere Gespräche beziehen sich auf praktische, momentan zählende Situationen. 

Wer hält als Nächster Wache, wer darf schlafen.

Wie können wir genug Regenwasser auffangen, das einzig Trinkbare in diesem Höllenloch.

Und immer wieder ihre Frage: Wie lange sollen wir noch an dieser Hecke entlang laufen. 

"Was suchst du, Haymitch? Die Hecke ist die Grenze der Arena! Wir folgen ihr jetzt schon tagelang!", fragt sie an einem Nachmittag aufgebracht, als wir gerade eine Pause einlegen. 

"Irgendwas muss dahinter sein. Irgendwas, das wir nutzen können", antworte ich, während ich unsere letzten Vorräte aus den Rucksäcken krame. 

Maysilee beendet mit ihrem Schweigen das Gespräch, aber ich merke, dass es ihr missfällt. Sie will nicht mehr, sie versteht nicht, warum ich das tue. 

Wir essen, ordnen unsere wenigen Habseligkeiten und machen uns auf, um weiter zu wandern.

"Es ist schon lange niemand mehr gestorben", murmelt Maysilee irgendwann am frühen Abend und blickt unsicher um sich. 

"Halte dich bereit, bald werden sie was Neues aus ihrer Trickkiste holen, um uns zusammen zu treiben", antworte ich grimmig und halte meine Messer bereit. 

Wir gehen weiter, sind wachsam, doch der Wald und die Hecke sind so ruhig und gleichförmig wie schon seit Tagen. 

Die Kanone ist tatsächlich schon lange nicht mehr erklungen. Es ist seltsam, ich weiß nicht mal, wie lange es wirklich her ist. Schon gefühlte Ewigkeiten sind wir nicht mehr auf andere Menschen getroffen. 

Und da sehe ich die Rauchsäule, die sich wenige Kilometer entfernt durch das Blätterdach des Waldes kämpft. 

"Es ist jemand in der Nähe", flüstere ich Maysilee zu und deute in die Richtung des Rauches. 

"Sollen wir verschwinden oder lassen wir es darauf ankommen?", fragt sie zurück und überlässt mir so die Entscheidung über unser Vorgehen.

"Früher oder später müssen wir uns den anderen stellen. Warum sollten wir es nicht gleich hinter uns bringen?" 

Wir gehen weiter, nicht mehr so schnell wie zuvor, denn jetzt ist es wichtig unsere Umgebung abzusichern. 

Das erste Tribut, dass uns über den Weg läuft, stirbt wahrlich unspektakulär. Maysilees Giftpfeil trifft ihn in dem Moment, in dem er seinen Speer zieht und ihn auf uns schleudern will. Er sackt in sich zusammen und die Kanone ertönt. 

Ich weiß nicht einmal mehr, aus welchem Distrikt der Junge kommt, geschweige denn seinen Namen. Es waren zu viele Kinder, zu viele Interviews, zu viele Gesichter um sich mehr als die paar Wenigen zu merken, die aus der Menge herausgestochen sind. 

Doch er war anscheinend nicht alleine unterwegs im Wald, denn sofort brechen zwei weitere Gestalten aus dem Dickicht des Waldes und nehmen den Kampf mit uns auf. Sie sind beide schnell, doch sie kämpfen nicht so gut zusammen wie Maysilee und ich. Es dauert eine Weile, doch nach mehreren blutigen Wunden auf beiden Seiten liegen die anderen Tribute keuchend vor Schmerz auf dem Boden und rühren sich kaum noch. Das Mädchen hebt sich den Bauch und stöhnt, mein Messer ist tief in ihre Magenhöhle eingedrungen, es wird nicht mehr lange dauern, bis sie der Wunde erliegen wird. Die Kanone des Jungen ertönt in diesem Moment. Wir entfernen uns etwas von den Sterbenden und machen uns daran, ihre Rucksäcke und Beutel nach Nützlichem zu durchsuchen. 

Als das Hovercraft den ersten der drei Toten abholt, um ihn nach Hause zu bringen, finde ich, was ich schon die ganze Zeit gesucht habe. Die Tribute hatten einen Schneidbrenner. Ich nehme ihn leicht grinsend an mich und teile dann schnell das restliche Essen und die Waffen mit Maysilee, bis wir uns wieder auf den Weg machen. Wir beide wollen den Schauplatz des Todes so schnell wie möglich verlassen. 

Mithilfe des Schneidbrenners überwinden wir endlich mit etwas Arbeit die erst so undurchdringbare Hecke und treten auf eine ausgetrocknete Ebene hinaus, die an einer Klippe endet. Weit unten sind zerklüftete Felsen zu erkennen.

"Das ist alles, Haymitch. Lass uns umkehren", sagt Maysilee kraftlos und man merkt ihr ihre Enttäuschung über diesen Fund an.

"Nein, ich bleibe hier", erwidere ich und starre die Klippe hinunter. Dieser Ort ist besonders, das spüre ich. Ich muss nur noch herausfinden, was es ist.

"Gut. Wie du willst. Nur noch fünf von uns sind übrig. Dann können wir auch jetzt und hier Lebewohl sagen", sagt sie. "Ich möchte nicht, dass am Ende bloß noch wir beide übrig sind."

"Okay", sage ich. Mehr nicht. Sie hat die Entscheidung getroffen, die für uns beide des Beste ist. Innerlich hoffe ich, dass ich sie nie mehr sehen muss. Ich würde es nicht über mich bringen. 

Und so geht sie fort. 

Ich gestatte mir nicht, an sie zu denken, sondern versuche, das Rätsel vor mir zu lösen. Grübelnd starre ich in den Abgrund. Ich trete bis an die Kante der Klippe. Der Boden hier ist steinig und locker. Unter meinem Fuß löst sich ein kleiner Stein und fällt in den Abgrund.

Es kann doch nicht alles sein. Ich spüre, dass hier irgendetwas ist. 

Ich setze mich auf den Boden und in dem Moment kommt mir ein kleiner Stein entgegen geflogen und landet neben mir. Verdutzt starre ich ihn an, bis mir ein Licht aufgeht. 

Ich nehme einen faustgroßen Stein in meine Hand und werfe ihn in den Abgrund. Wenig später wird er wieder zurückgeschleudert und landet wieder in meiner Hand. Befreit lache ich los. Das ist also das Geheimnis!

In diesem Augenblick höre ich Maysilees markerschütternden Schrei.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 21, 2018 ⏰

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