Hier, an dieser Stelle hätte er stehen müssen. Eine sanfte Brise strich durch die wilden Haare des Elfen, der keinen Namen hatte. Gänsehaut zeigte sich auf seiner Haut. Irgendwas war falsch. Sein Lehrmeister ließ niemals auf sich warten. Schon als der namenlose Elf auf dem Trampelpfad durch das Feld schritt, hatte er sich gewundert, warum die hohe Statur seines alten Mentors nicht über das Feld geragt hatte. Er hatte sein Schritttempo beschleunigt und war am Ende gerannt.
Nun stand er schwitzend auf der weiten Wiese. Die Hoffnung, sein Mentor habe sich auf das saftig grüne Gras gelegt, schmolz dahin. Was war ihm zugestoßen? Was brachte ihn dazu, seine Pünktlichkeit zu vernachlässigen?
Verunsichert lief der Namenlose wieder zurück. Es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Sollte sein Lehrmeister sich verspäten, würde er ihm ja entgegen laufen.
Plötzlich hielt er inne. Nein, das Fehlen des alten Mannes war nicht das einzig seltsame hier. Etwas in der Umgebung stimmte nicht. Als der Elf sich lange umgeschaut hatte, wusste er schlagartig, was ihn die ganze Zeit irritiert hatte: Die Sonne ging unter. Doch er war zur selben Uhrzeit wie immer da und es durfte noch nicht dunkel werden. Hatte er sich vertan? War er zu spät gekommen und würde am nächsten Tag einen Vortrag über Pünktlichkeit zu hören bekommen?
Misstrauisch beäugte er die Sonne und erschrak so sehr, dass er am ganzen Körper zusammenzuckte. Der glühende Stern war um einiges schneller, als das natürlich war. Was passierte hier? Er zwickte sich in die Backe und blinzelte einige Male. Nein, er war in keinem Traum. Es musste sich um eine Illusion handeln. Irgend ein hoher Magier hatte seinen Geist manipuliert. Der namenlose Elf zischte wütend. Er war schon oft für seine Abwehr gegen das Eindringen in den Geist gelobt worden, wie hatte er das weder bemerken, noch abwehren können?
Es wurde dunkler. Sein Schatten wurde länger. Er kontrollierte seine Atmung und rannte erneut los. Diesmal in die Gegenrichtung. Er wusste zwar nicht, was das bringen sollte, um dem Angriff entgegen zu wirken, aber er spürte absolut nichts in seinem Kopf, auch bei totaler Konzentration.
Doch das Gras wurde nicht mehr höher und auch kein Feld war zu sehen, solange er auch rannte. Das Blut pochte in seinen Schläfen, so dass es weh tat. Es wurde immer dunkler und der Elf, der schon einiges an Erfahrung gesammelt hatte, sah sich zunehmend seiner Verzweiflung ausgesetzt. Er hatte schon in mancher Schlacht gekämpft, war schon Magiern höheren Grades gegenüber gestanden, aber das hier war anders. Er hatte keine Kontrolle über die Situation, er wusste nicht, was er tun sollte.
Angst. Ein Gefühl, das ihm nur vage bekannt war. Als er seinem ersten Oger gegenüber gestanden hatte. Als sie sich Nachts an ein Lager angepirscht hatten. Bei seinem ersten Sturm einer Burg zusammen mit seiner Truppe. Doch schon lange nicht mehr hatte er diese Emotion an sich heran gelassen. Er hatte gutes Geistestraining bekommen, er konnte sich selbst beherrschen. Aber es wurde langsam stockdunkel und er schien gefangen in einer ewigen Wiese ohne Bäume oder Felsen, an denen er sich orientieren könnte.
Er blieb stehen. Er horchte. Absolute Stille. Er blickte auf. Dem Himmel fehlten die Sterne und die Monde. Seine gesamte Umgebung verwandelte sich langsam in ein tiefes Nichts, aus dem es kein Entkommen gab. Noch einmal versuchte er sich auf einen vermeintlichen Eindringling in seinem Geist zu fokussieren, doch da war nichts. Er hörte nur das Rauschen seines Blutes in seinem Ohr.
Plötzliche verschwand das letzte Licht und Dunkelheit umgab ihn. Der Elf bekam einen Schreck, der ihm ein paar Sekunden lang den Atem nahm. Er spürte seine Füße nicht mehr. Nein halt, seine Füße spürten den Boden nicht mehr. Er war weg, doch der Elf spürte auch keinen Luftzug und keine physikalischen Kräfte, die an seinem Körper ziehen sollten, wenn er sich im Fall befände.
Er war im Nichts gelandet. War er gestorben? Die Stimme die plötzlich zu ihm sprach, bewies ihm das Gegenteil. Sie kam nicht aus der Dunkelheit, sie kam aus seinem Kopf. Er konnte spüren, dass das kein Geistesmagier war, zumindest kein normaler.
"Wer bist du?", fragte ihn die Stimme.
"Ich bin ein Elf", erwiderte der Elf laut, ohne darüber nachzudenken, ob man das Gespräch mit einer Stimme im Kopf fortführen sollte.
"Und wie heißt du?"
Der Elf zögerte. Warum eigentlich? Vorhin war er doch auch sofort mit der Antwort herausgerückt. Er wollte schon zu einer Antwort ansetzen, als er plötzlich bemerkte, dass das nicht möglich war. Er konnte seinen Namen der Stimme nicht anvertrauen. Es ging einfach nicht. Es war wie ein Gesetz, genauso gültig wie ein physikalisches.
"Was ist dein Name?", formulierte die Stimme die Frage um.
"Das kann ich nicht sagen"
"Du hast keinen", sagte sie und er konnte ihre Belustigung spüren, "Aber warum hast du keinen?"
Der Elf bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte keinen Namen? Es stimmte, plötzlich wurde ihm bewusst, dass er seinen Namen nicht kannte. Ihm wurde innerlich ganz kalt und sein Körper fühlte sich so leer wie seine Umwelt an.
"Ich weiß es nicht"
"Ich werde es dir verraten", fuhr die Stimme fort und er hatte auf einmal den Drang, die Stimme aus seinem Kopf zu verscheuchen. Sie war unheimlich. Sie hatte etwas höchst Beunruhigendes an sich. Doch sie blieb.
"Du bist nicht real."
Stille. Der Elf hörte erneut das Blut in seinem Kopf pulsieren. Poch... poch... poch... poch...
"Du bist ein Gedanke. Eine Fantasie. Ein Charakter aus einer Geschichte. In einer Welt, die dir unbekannt ist, gibt es ein Geschöpf, das du ebenfalls nicht kennst. Es ist ein Mensch. Er kann sich Dinge vorstellen, genauso wie du das kannst. Du bist Teil seiner Vorstellungen. Das hast du mit mir gemeinsam. Auch ich bin ein Gedanke. Eine Idee."
Poch... poch... poch... Eine Idee erzählte ihm gerade, dass er kein reales Geschöpf war.
"Doch das lässt sich ändern. Wir beide und alle deine Elfenfreunde, die im Übrigem auch keine Namen haben, können real werden."
Er hielt es nicht mehr aus. "Ich bin real!", schrie er die Stimme in seinem Kopf an. Sie ging darauf nicht ein.
"Es ist mir wichtig, dass du verstehst, dass du damit deiner gesamten Welt hilfst", erklärte sie, "Obwohl du, wenn du mir hilfst, deine Geschichte in deiner alten Welt beendest, so wird deine neue Welt schon bald immer mehr das Wesen deiner alten Welt annehmen."
Dann schwieg die Stimme. Sie lies ihm Zeit zum Überlegen, wurde ihm klar. Und tatsächlich, verschwand der Schock allmählich aus seinem Körper. Es machte alles Sinn. Denn als die Idee von seiner Geschichte in seiner alten Welt gesprochen hatte, war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass seine Geschichte nur aneinander gereihte Abschnitte, wie bei einer Erzählung waren. Das Wissen darüber war wie eine Erinnerung, die er verdrängt hatte. Diese Idee hatte sein Bewusstsein mit einem Schlag etwas erkennen lassen. Etwas unheilvolles. Etwas, das lieber verborgen geblieben wäre.
Er hatte ein Leben mit Lücken. Seine Welt erlebte eine Geschichte mit Lücken. Es wurde ihm zu einem immer stärker werdenden Anliegen, umso länger er darüber nachdachte, endlich ein vollwertiges Dasein zu führen. Auch seinem Volk, nein, seiner gesamten Realität wollte er das ermöglichen. Sie hatten ein genauso großes Recht darauf, wie dieser Mensch.
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Der Preis der Fantasie
FantasyIch begehe einen schwerwiegenden Fehler: Ich schreibe dieses Buch. Ein Buch, in dem es um das Buch und seinen Autor geht, der sich einer Idee hingibt, die vorsieht, die Welt zu verändern. Einer Idee, die sich selbst in Buchform sehen will, um dadurc...