Von Märchen und alten Bekannten

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Er ging nicht auf meine Forderung ein, sondern drehte sich einfach um und ging weiter, so als würde es mich gar nicht geben. Ich wusste, dass er vermutlich einfach nur nicht wusste, wie er mir antworten sollte, doch die Tatsache, dass er mich ignorierte, machte mich sauer. Ich löste mich aus meiner Starre. Schnellen Schrittes schloss ich zu ihm auf und funkelte ihn an. „Wo ist James?" fragte ich, und verzichtete diesmal darauf, meine Stimme aufgrund der späten Stunde zu senken. Er presste seine Lippen zusammen. „Ich weiß es nicht." Ja klar, dachte ich bitter. „Wieso soll ich nicht wissen, wo er ist?" Mein Tonfall war spitzer als beabsichtigt, doch das war mir egal. Ich fand, er hatte es verdient, nicht nett behandelt zu werden. Na gut. Vermutlich war das alles nicht seine Idee gewesen, und vielleicht konnte er das, was er hier tun sollte, nicht einmal gutheißen, wurde aber erpresst mit was auch immer. Aber trotzdem war er derjenige, der im Auftrag der Rumtreiber versuchte, dass, was auch immer James gerade tat, vor mir geheim zu halten. „Gib. Mir. Die Karte." Sagte, nein knurrte ich fast. Ich war seine verdammte Freundin. Ich hatte das verdammte Recht zu wissen, was er machte. Erst recht dann, wenn ich es nicht wissen sollte. „Ich hab die Karte nicht bei mir." Sagte er. Ich schluckte. Wenn er die Wahrheit sagte, dann hatte entweder James selbst die Karte und ich hatte vermutlich keine Chance, herauszufinden wo er war. Oder Sirius oder Peter hatten sie, und auch dann standen meine Chancen herzlich gering. Wenn er allerdings log... Ich schaute ihn an. Ich sah kein Anzeichen einer Lüge, doch das konnte auch daran liegen, dass ich mich nicht voll und ganz darauf konzentrierte. Ich tat, als glaubte ich ihm, seufzte frustriert, um es zu verdeutlichen. Ich überlegte mir, wie ich herausfinden konnte, wo er die Karte versteckt hatte, falls er sie doch hatte. Er trug einen Grauen, zu großen Kapuzenpulli, unter dem er mühelos eine Karte hätte verstecken können. Ebenso konnte er sie in den Hosentaschen haben. In den vorderen hatte er immer noch seine Hände, weswegen ich nicht sehen konnte, ob sich die Konturen des Pergamentes möglicherweise unter dem Stoff seiner Jeans abzeichneten. Ebenso wenig konnte ich etwas bei den hinteren Hosentaschen erkennen, da diese vom Saum seines Pullis fast vollständig verdeckt wurden. Ich gab es auf, nach optischen Hinweisen auf die Karte zu suchen, und versuchte es stattdessen mit Geräuschen. Ich konzentrierte mich auf die stille um uns herum. Ich konzentrierte mich auf das dumpfe Geräusch, welches unsere Schuhe bei jedem Schritt verursachten und wartete auf rascheln von Papier, was auf die Karte hingedeutet hätte. Doch nichts dergleichen passierte. Nichts, außer dass meine Verzweiflung stetig wuchs und ich fast platzte, vor Neugier, dem Gefühl hintergangen zu werden und vor unterdrückter Wut. Ich versuchte, meine Taktik zu ändern. Ich kannte Remus, und wusste, wie ich ihn manipulieren konnte. Mein schlechtes Gewissen bei diesem Gedanken versuchte ich zu beruhigen, in dem ich mir einredete, dass ich dieses Wissen niemals benutzen würde, um ihm ernsthaft Schaden zuzufügen. Ich richtete mich etwas auf und hob meinen Kopf gerade so viel, dass es aussah wie zufällig, aber genug, um ein Fünkchen seiner Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich hob meine Mundwinkel ein winziges Stückchen und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Nachdem ich mir sicher war, dass Remus es bemerkt hatte, schürzte ich die Lippen leicht, so als versuche ich, meine Mimik unter Kontrolle zu bringen und schob meine linke Hand in die Hosentasche, als würde ich etwas darin verstecken... und ich erreichte mein Ziel. Remus Gesicht wurde nicht unsicher, dafür konnte er sich selbst zu gut beherrschen, aber ich sah aus dem Augenwinkel, wie er seine Hand hob, sich an den Bauch fasste und sie unauffällig wieder sinken ließ. Er hob sein Kinn an und straffte seine Gesichtszüge. Ich war mir ziemlich sicher, dass er mich durchschaut hatte, doch trotz dieser kleinen Ernüchterung hatte ich Schwierigkeiten, mir meinen kleinen Triumph nicht anmerken zu lassen. Denn ich wusste nun, dass er die Karte hatte, und wo sie sich befand. Jetzt war nur noch die Frage, wie ich an seinen gut behüteten Schatz heran kam, beziehungsweise wie ich eine Gelegenheit fand, die Karte an mich zu nehmen, ohne dass er es mit bekam. Denn selbst wenn ich einfach meine Arme ausstreckte und sie mir nahm, konnte ich sie wohl kaum ungehindert entschlüsseln und darauf nach James' Punkt suchen, während Remus daneben stand. Ebenso wenig konnte ich mir die Karte schnappen und wegrennen. Remus war zwar nicht sehr sportlich, doch ich war es noch weniger. Und er hatte längere Beine. Also musste ich diesen Gedanken wohl oder übel ebenfalls ausschließen und mir etwas Besseres einfallen lassen. Ich ließ meinen Blick schweifen, auf der Suche nach einer Inspirationsquelle. Doch in meinem Blickfeld befand sich zu meinem Bedauern nicht mehr als schon den ganzen Abend. Wir kamen an unzähligen Kerzen vorbei, an unzähligen Gemälden und ich sah Türen, die an beiden Seiten der Korridore zu Klassenzimmern und Besenkammern führten. Und da kam mir ein Gedanke. Er war aberwitzig, doch ich fand, einen Versuch war es Wert. Früher, als Petunia und ich noch klein waren, hat unsere Mutter uns immer Muggelmärchen vorgelesen. Ich habe die Geschichten immer geliebt. Schneewittchen, Aschenputtel oder Dornröschen. Einmal hat sie uns ein Märchen vorgelesen, welches nicht von einer schönen Prinzessin handelte, sondern von zwei Geschwistern, die von ihrem Vater und ihrer Stiefmutter im Wald ausgesetzt und von einer bösen Hexe gefangen genommen wurden. Wir haben es damals beide nicht gemocht. Ich nicht, weil ich den Vater der beiden Kinder so schrecklich fand, Petunia nicht, weil sie lieber Märchen über Prinzessinnen hören wollte, die am Ende ihren Traumprinzen bekamen. Einmal nur hat sie es uns vorgelesen, und dennoch kann ich mich bis heute an fast jedes Detail erinnern. Ich griff so leise und unauffällig wie ich konnte nach meinem Zauberstab, der in meiner hinteren Hosentasche steckte und richtete ihn auf eine Tür zu meiner Rechten. Normalerweise waren die meisten Türen in der Nacht abgeschlossen. Ich hoffte inständig, dass auch meine Ziel-tür keine Ausnahme bildete. „alohomora" dachte ich, und schwenkte meinen Zauberstab. Ich hörte ein leises „Klick" ein paar Meter vor uns. Remus blieb stehen und sah mich an. „Ich glaub, da ist jemand." Flüsterte er, und griff nach seinem Zauberstab. „Lumos" murmelte er, und näherte sich langsam der Tür. Ich folgte ihm in einigem Abstand. Ich wusste, dass ich, wenn mein Plan nicht funktionieren sollte, heute wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr haben werde, die Karte zu bekommen. Mein ganzer Körper stand unter Spannung, als er seine Hand auf die Türklinke legte, und sie vorsichtig herunterdrückte. Leise knarzend schwang die Tür auf, und offenbarte eine Besenkammer, an deren Wand mehrerer Flugbesen lehnten. Er trat ein und lehnte sich etwas vor, um zu sehen, ob sich jemand hinter der Tür versteckte. Ich wusste natürlich, dass die Besenkammer lehr war. Genauso wie ich wusste, dass ich die Gelegenheit nutzen musste, bevor er das erkannte sich wieder zurückzog. Ich machte mich bereit. „Expelliarmus" rief ich und fing seinen Zauberstab mit meiner freien Hand auf, der ihm aus der Hand gefallen und auf mich zu geflogen war. Völlig überrumpelt drehte er sich zu mir um, und ich nutzte diesen kurzen Augenblick, um ihm einen leichten stoß gegen die Brust zu geben, der ihn nach hinten taumeln ließ. Mit Hilfe eines weiteren Spruches ließ ich die Tür krachend zwischen uns ins Schloss fallen und verriegelte diese sofort. Jetzt fehlte nur Noch eines. „Accio Karte des Rumtreibers!" rief ich, und wenige Augenblicke später sah ich, wie das scheinbar unbeschriebene stück Pergament unter dem Türschlitz hervorschnellte und vor meinen Füßen zum Liegen kam. Schnell bückte ich mich und nahm es in die Hand, die beiden Zauberstäbe steckte ich wieder in die hintere Hosentasche. Unschlüssig betrachtete ich die Karte. Vom inneren der Besenkammer hörte ich gepolter. „Remus?" Fragte ich zaghaft. „Alles in Ordnung bei dir?" Ich kniete mich vor die Tür und versuchte, etwas durch das Schlüsselloch zu erkennen. Es war stock dunkel da drin. „Ja klar, Lily. Alles bestens." Sagte Remus und versuchte dabei gar nicht erst, die Ironie aus seiner Stimme zu verbannen. Die Gewissensbisse plagten mich bereits jetzt. Ich packte meinen Zauberstab und richtete ihn auf das Schlüsselloch, und damit auf den dahinterliegenden Raum. „Lumos" Flüsterte ich, und an dem sanften schein, der unter der Türschwelle hervortrat, erkannte ich, dass sich die Besenkammer wie geplant, erhellt hatte. Von drinnen hörte ich nichts. „Remus?" Fragte ich erneut. „Es tut mir wirklich leid." Sagte ich, und meinte es auch so. Es tat mir leid, dass ich ihn in dieser Besenkammer einsperrte, und dass ich ihm die Karte weggenommen habe. Er antwortete mit einem Brummen, was durch die Tür deutlich gedämpft wurde. Vielleicht wird James deswegen sauer auf ihn sein, weil er mich nicht aufhalten konnte. Vielleicht auch Sirius, wie mir einfiel, denn der war bestimmt eingeweiht. Dieser Gedanke machte mich noch wütender. Denn dann würde nicht nur mein fester Freund hinter meinem Rücken irgendetwas machen, was mir nicht gefiel, sondern auch noch mein bester. Ich würde auf jeden Fall versuchen, Remus vor den anderen zu verteidigen. Das war ich ihm schuldig. Ich seufzte, setzte mich auf den Boden neben der Tür und lehnte meinen Rücken an die Wand. Auf meinen angewinkelten Knien hielt ich die Karte in den Händen und betrachtete sie nachdenklich. Ich war unschlüssig, was ich nun machen sollte, oder was ich vor allem machen wollte. Natürlich konnte ich sie einfach öffnen, dafür hatte ich sie
mir schließlich genommen. Wie das ging, hatte James mir erklärt. Doch ich wusste noch nicht, welches der vorherrschenden Gefühle in mir die Oberhand gewinnen würde. Entweder die Wut auf James und die Neugierde zu wissen, was er machte, dass er es vor mir geheim halten musste. Wenn ich im Moment nur dieses Gefühl hätte, würde ich sofort nachsehen. Andererseits hatte ich aber auch Angst. Angst vor dem, was ich auf der Karte möglicherweis zu sehen bekommen würde und der Wunsch, dass alles zu Ignorieren und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Doch als ich mir diese zwei Entscheidungsmöglichkeiten und die jeweiligen Beweggründe klarmachte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich nicht einfach vergessen konnte. Und auf einmal wusste ich, dass, wenn ich die Karte nicht öffnete und Remus das Pergament zurückgab und ihn aus seiner provisorischen Haft entließ, ich nicht würde schlafen können, ehe ich es auf anderem Weg rausgefunden hatte. Ich seufzte. „Remus?" Fragte ich zum gefühlt tausendsten Mal heute Abend. „Ja?" Hörte ich seine gedämpfte Antwort. Ich wartete einige Sekunden, bis ich meine Frage von vorhin wiederholte. Diesmal klang mein Tonfall jedoch nicht schrill, sondern müde, mit einem verzweifelten Unterton. „Weißt du, wo James ist?" Ich hörte sein leises Seufzen. „Nein, ich weiß es wirklich nicht." Es schien, als sagte er die Wahrheit. Denn welchen Grund sollte er haben, es jetzt noch verheimlichen zu wollen, wo ich doch sowieso die Möglichkeit hatte, es rauszufinden? „Und woher weißt du dann, dass ich es nicht erfahren soll?" Er schwieg ein paar Sekunden ehe er mir zögernd antwortete. „Sirius." Sagte er so leise, dass ich es fast nicht hören konnte. Seine Stimme klang entschuldigend, so, als sei es sein Fehler, dass mein bester Freund meinem festen Freund dabei half, hinter meinem Rücken Dinge zu tun, von denen sie wussten, dass ich sie nicht gutheißen würde. Ich bemerkte abwesend, dass mein Blick ohne mein Zutun abgeschweift war, den Gang auf und ab wanderte und manchmal hängen blieb. An rissen in der Wand, an Wachstropfen einer Kerze oder an Astlöchern im Boden. Ich schloss sie einen Augenblick, genoss das Gefühl der Entspannung und heftete ihn dann erneut auf die Karte des Rumtreibers. „Lily?" Hörte ich Remus' Stimme aus der Kammer dringen, doch diesmal wirkte sie näher. Vielleicht hat er sich ja von innen an die Tür gelehnt. „Ja?" Er räusperte sich leise. „Bevor du die Karte öffnest, solltest du dir eines klarmachen. James ist kein schlechter Mensch. Was auch immer er tut, und ich sage dir ehrlich, dass ich es nicht weiß, ich bin mir sicher, dass er, wenn er weiß, dass es dich verletzt, es nicht ohne schlechtes Gewissen tut. Und ganz bestimmt würde er niemals etwas tun, nur um dich zu verletzen." Ich versuchte, seine Worte zu begreifen. Und meine Schwierigkeiten dabei beruhten nicht nur auf der, für diese Tageszeit viel zu komplizierte Satzstruktur, sondern vielmehr beim Inhalt. Ich versuchte das Gesagte zu verstehen, und es durch das Bild zu ersetzen, was ich mir schon Unterbewusst von der Situation und von James' Rolle darin gemacht hatte. So wie er es sagte, klang es allerdings so, als sei er sich sicher, dass mich das, was ich sehen werde, verletzen wird. Ich musste Schlucken. „Du weißt es wahrscheinlich nicht, und ich glaube, dass James es auch nicht weiß, aber so wie James immer von dir geredet hat, wusste ich, dass ihr früher oder später zueinander finden werdet. Niemand in Hogwarts und auch niemand außerhalb von Hogwarts hat es jemals zustande gebracht, ihn so aus der Fassung zu bringen, wie du es geschafft hast und es auch immer noch schaffst. Ich glaube, er Liebt dich wirklich, wirklich sehr. Vielleicht sogar mehr, als ihm bewusst ist. Und vielleicht musst du ihm einfach vertrauen, wenn er das sagt, auch wenn es möglicherweise einiges an Überwindung kostet". Ich atmete tief ein. Ich verstand was er mir mitteilen wollte und ich wusste, dass ich ihm Glauben schenken sollte. Niemand kannte James so gut wie Sirius, Peter und Remus. Und niemand konnte seine Absichten und Gefühle besser einschätzen. Doch auch ein so guter Menschenkenner wie Remus konnte sich irren. Ich versuchte das, was er gesagt hat und woran er augenscheinlich wirklich glaubte, ebenfalls für wahr zu erklären und James als einen unschuldigen Menschen zu betrachten. Doch noch in derselben Sekunde in der das dachte, wusste ich auch schon, dass ich das nicht konnte, bevor ich mich nicht selbst davon überzeugt hatte und meine Zweifel zunichte gemacht wurden. Ich stieß die Luft, die ich unbewusst angehalten hatte, geräuschvoll wieder aus und stand auf. Als ich sicher auf beiden Beinen stand blickte ich wieder auf die Karte, doch diesmal nicht unschlüssig, sondern entschlossen. Ich packte meinen Zauberstab, richtete ihn auf die Karte und murmelte mit zitternder Stimme: „Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin."
Ich hatte von vorne herein gewusst, dass mir das, was ich zu sehen bekommen würde, nicht gefallen konnte. Und doch hatte es sich wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt, als ich James' Punkt auf dem Astronomieturm entdeckt hatte, kaum einen Millimeter von dem Punkt eines Mädchens entfernt, dessen Namen ich noch nie von ihm oder von sonnst wem gehört hatte. Das bedeutete, dass sie weder in unserem Jahrgang sein konnte, noch im sechsten, im Jahrgang unter uns. Sie war also höchstens fünfzehn. Ich konnte nicht beschreiben, was ich bei diesem Gedanken gefühlt hatte. Nachdem ich gesehen hatte, was ich hatte sehen wollen, war alles wie von weiter weg passiert. Ich habe alles mitbekommen, doch nicht als ich selbst, sondern eher als eine Art Zuschauer, der die Handlung nicht verstand. Wie versteinert hatte ich die Karte wieder gelöscht, sie zusammengefaltet und die Tür zur Besenkammer geöffnet. Remus hatte bereits vor der Tür gestanden als die Tür knarzend aufgeschwungen war. Er hat darauf verzichtet mir erneut einreden zu wollen, was für ein guter Mensch James war, und ich war ihm dankbar dafür. Nicht weil ich ihm ohnehin geglaubt hab, ebenso wenig, weil ich seinen Worten kein Vertrauen schenkte. Sondern einfach, weil ich mich nach einem Moment der Stille gesehnt hatte, in dem ich mir selber darüber hatte klar werden können, was ich über die ganze Situation dachte und wie ich damit umgehen würde. „Ich denke, wir sollten uns aufteilen, damit wir schneller durch sind." Hatte ich vorgeschlagen. Remus hatte nur stumm genickt. „Ich werde vom Kerker aus weiter machen." Hatte ich hinzugefügt und wieder hatte er nur genickt. Ich hatte die ganze Zeit auf den Boden geschaut, weil ich es nicht über mich gebracht hatte, ihm in die Augen zu sehen. Eigentlich hätte ich nach dieser Aussage einfach gehen können, um die Patrouille fortzuführen, doch ich hatte noch etwas loswerden wollen. „Tut mir leid, dass ich dich eingesperrt und dir die Karte geklaut hab." Meine Stimme war genauso tonlos und monoton gewesen, wie ich mich gefühlt hatte. Wieder hatte er mir keine Antwort gegeben, auch wenn ich es mir diesmal gewünscht hätte. Er hatte einfach nur regungslos vor mir gestanden und mich angeguckt. „Ach, Lily." War das einzige gewesen, was ich von ihm gehört hatte. Danach hatte er mich kurz in die Arme geschlossen, und war, nachdem er mich wieder freigegeben hatte, den Korridor, auf dem wir uns befanden, ohne ein weiteres Wort weiter entlangmarschiert. Nun war ich allein auf dem Weg in die Kerker. Ich wachte langsam aus meinem tranceartigen Zustand auf und begann zu realisieren, was überhaupt los war. Mir fiel auf, dass ich die Karte des Rumtreibers nicht mehr bei mir hatte, ebenso wenig wie Remus' Zauberstab. Er musste sie wieder an sich genommen haben, ohne dass ich es registriert hatte. Vielleicht benutzte er sie ja, um James zu finden. Möglicherweise war er bereits auf dem Weg zu ihm, um ihm zu erzählen, dass ich ihn gesehen hatte. Entgegen meiner Erwartungen fühlte ich nicht besonders viel bei dem Gedanken an James. Vorhin, als ich gemerkt hatte, dass Remus versuchte, mir die Karte vorzuenthalten, hatte ich Wut verspürt. Ich war sauer auf Remus gewesen, weil er es fast geschafft hätte. Ich war sauer auf Sirius gewesen, weil er James und Remus geholfen hatte und ich war so sauer auf James. Doch jetzt war ich nicht mehr sauer. Ich war auch nicht wirklich traurig, wie ich bemerkte. Natürlich, ein bisschen traurig war ich schon, doch eigentlich war ich nur enttäuscht. Aber mal ehrlich. Was hatte ich erwartet, was passiert wenn ich mich in meinen langjährigen Erzfeind verliebte? Hab ich gedacht, es wird alles gut gehen, wenn ich mit ihm zusammen kam? Um ehrlich zu sein, hatte ich mir noch überhaupt keine Gedanken um die Zukunft James und mich betreffend gemacht. Ich versuchte, mich an das Gefühl zu erinnern, welches mich durchströmt hatte, als wir uns das erste Mal richtig geküsst hatten. Ich meine, dass erste Mal in dem Wissen, dass wir uns ineinander verliebt hatten. Es war ein berauschendes Gefühl gewesen. Doch wie es mich in jener Nacht mit scheinbar purem Glück erfüllt hatte, so erfüllte es mich jetzt mit Trauer. Ich erschauderte unwillkürlich und meine Augen füllten sich so schnell und plötzlich mit Tränen, dass ich sie nicht mehr zurückhalten konnte. Ein Ruck durchfuhr meinen Körper und ich begann zu schluchzen. Dieser Gefühlsausbruch traf mich so unvorbereitet, dass ich noch mehr weinte, und nicht einmal genau wusste, warum. Natürlich, Ich war verletzt. Ich fragte mich, was er sich wohl dabei dachte. Was er wohl jetzt dachte? War er wohl noch immer oben auf dem Turm und knutschte mit diesem kleinen Mädchen? Fand er es lustig, Herzen zu brechen? Wollte er sich diesmal selbst übertreffen und zwei Herzen auf einmal brechen? War ihm eine Freundin nicht genug und er dachte, es bliebe unbemerkt, wenn er mit mehreren Mädchen gleichzeitig zusammen war? Oder dachte er vielleicht gar nicht an mich? Ich seufzte. Vielleicht dachte er ja gar nicht an mich. Wie hatte ich ihm nach all den Jahren der Feindschaft nur so schnell mein Vertrauen schenken können? Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass ich ihn vielleicht einfach immer unterschätzt hatte. Ich war immer der Meinung gewesen, all die Mädchen waren dumm und naiv gewesen sich ihm an den Hals zu werfen. Es war doch offensichtlich, was für er Mensch er war. Doch vielleicht lag es auch gar nicht an der vermeintlichen Dummheit der Mädchen. Vielleicht hatte er sie alle genauso von sich überzeugen können, wie er es bei mir geschafft hatte. Vielleicht hatte er alle anderen auch glauben lassen, er hätte sich geändert. Vielleicht war ich nur in der Hinsicht anders als alle anderen, dass er sich bei mir mehr hatte anstrengen müssen. Ich fühlte mich dumm, weil ich auf ihn hereingefallen war. Weil er es letztendlich doch noch geschafft hatte. Doch das schlimmste daran war nicht, dass ich jetzt vermutlich keinen Freund mehr hatte. Dass schlimmste daran war, dass er es geschafft hatte, mein gesamtes Selbstbewusstsein im Mark zu erschüttern. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so schutzlos ausgeliefert gefühlt wie in diesem Moment... Meine wirren, selbstzerstörerischen, deprimierenden und klischeehaften Gedanken wurden jäh unterbrochen, denn ein sanfter Lichtschein hatte sich in mein Blickfeld geschlichen, der meine Aufmerksamkeit erregte. Mein Schluchzen war schon vor einiger Zeit verstummt und meine Tränen, die bis vor einer Sekunde noch unaufhaltsam über mein Gesicht geronnen waren, waren ebenfalls versiegt. Ich verlangsamte meine Schritte und steuerte auf das Klassenzimmer von Slughorn zu, in dem wir Gryffindors, zusammen mit den Slytherins des siebten Jahrgangs, zurzeit gemeinsam Zaubertränke Unterricht hatten. Die Tür war geschlossen und ich hörte keine Geräusche, die auf ein Lebenszeichen hindeuteten, doch zwischen Tür und Türschwelle sah ich Licht, welches vom inneren des Zimmers auf den Flur drang. Ich wischte mir mit den Händen übers Gesicht, um meine Wangen zu trocknen und öffnete die Tür.
Ich betrat das Klassenzimmer und sah mich um. Die schweren Holztische waren in mehrere Reihen aufgestellt und die Stühle standen unordentlich in unterschiedlichen Abständen und Ausrichtungen davor, was mich ahnen ließ, dass als letztes Schüler aus den unteren Jahrgängen hier unterrichtet wurden. Die hinteren Tischreihen waren im diffusen Licht nur schwach zu erkennen, wogegen die erste Reihe von zwei Kerzen erhellt wurde, die auf einem der Tische standen. An eben diesem Tisch stand ein Junge vor einem brodelnden Kessel und war scheinbar so ein seine Arbeit vertieft, dass er mich gar nicht bemerkte. Ich erkannte den Jungen sofort, auch wenn sein Gesicht von seinem schwarzen, strähnigen Haar verdeckt wurde, dass ihm in die Stirn gefallen war. Es war Severus Snape. „Du darfst hier nicht sein." Sagte ich, da ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Er war es gewesen, der mir vor meiner Aufnahme in Hogwarts alles über die Magische Welt erklärt hatte. Wir waren beste Freunde gewesen. Doch in der fünften Klasse hatte ich den Kontakt abgebrochen. Er war immer mehr wie seine muggelhassenden, reinblütigen Freunde geworden, die sich mehr für schwarze Magie interessierten als gut für sie war. Immer wenn ich ihn sah, dachte ich mit einer gewissen Melancholie an die Wochen vor unserer Einschulung zurück. An die warmen Sommertagen, in denen wir zusammen im Gras gelegen und versucht hatten, mit Zauberei Gänseblümchenketten zu knüpfen. Ich bildete mir ein, für einen Moment die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinen Armen zu spüren. Er erschrak nicht bei meinen Worten, was bedeutete, dass er mich wohl schon früher gehört haben musste. Er blickte nicht auf, sondern seufzte nur, während er seiner Beschäftigung aber ohne inne zu halten weiterhin nachging. „Du darfst hier nicht sein. Es ist Nachtruhe. Geh sofort in deinen Schlafsaal." Er strich sich mit einer Hand die Haaren hinters Ohr und warf mir einen flüchtigen Blick zu, ohne mich dabei richtig anzugucken, bevor er sich wieder dem Kessel zuwandte und etwas hinein warf, was er zuvor zerschnitten hatte. „Ich kann nicht weggehen, bevor ich fertig bin." Sagte er. Ich konnte es nicht fassen, dass er es wagte, sich meiner Aufforderung zu widersetzen. „Wie bitte? Du hast nicht zu entscheiden, wann du gehst und wann nicht. Wenn der Trank fertig sein muss, dann hättest du gar nicht erst damit anfangen sollen. Wenn du nicht sofort gehst, dann werde ich Slytherin für jede weitere Minute die du hier bleibst, fünf Punkte abziehen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass deinen Todesser-Freunden das sonderlich gut gefallen würde." Ich wusste, dass ich das nicht sagen sollte. Ich hatte mir vorgenommen, die Tatsache, dass ich ihn kannte, zu ignorieren. Das, was ich gesagt hatte, machte allerdings klar, dass ich ein persönliches Problem mit der Auswahl seiner Freunde hatte. Er rührte den Trank zwei Mal gegen den Uhrzeigersinn und drehte sich dann zu mir um. Ich wich seinem Blick aus. „Ist er schon fertig?" Fragte ich, doch ich wusste, dass dies nicht der Fall sein konnte. Auf dem Tisch lagen noch jede Menge Zutaten, die offensichtlich noch untergemischt werden mussten. „ich muss fünf Minuten warten." Sagte er. Ich schaute zu ihm auf, doch ich merkte schnell, dass das keine gute Idee war. Seine Augen weiteten sich kaum merklich und er richtete sich etwas auf. „Du...- Hast du geweint?" Fragte er, und ich senkte meinen Blick. Ich schüttelte den Kopf, doch ich spürte bereits, wie neue Tränen in meinen Augen brannten. Er sagte nichts, und ich konnte ihn verstehen. Ich wusste auch immer nicht, wie ich mit weinenden Menschen umgehen sollte. Ich wischte mir über die Augen und konzentrierte mich, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Nicht jetzt. Und ganz bestimmt nicht vor Severus Snape. „Nein" Sagte ich mit fester Stimme und presste meine Lippen zusammen. Er schaute mich zweifelnd an. „Ist es wegen Ihm? Wegen Potter?" Er sprach mit dunkler, gedämpfter Stimme, als kostete es ihn Überwindung, diesen Namen überhaupt auszusprechen. Ich antwortete ihm nicht. „Was hast du dir nur dabei gedacht, ausgerechnet mit ihm etwas anzufangen?" Ich hatte meinen Blick gesenkt, doch ich konnte mir seinen angewiderten Ausdruck, den er vermutlich gerade auf dem Gesicht hatte, nur zu gut vorstellen. „Musst du nicht wieder auf deinen Trank aufpassen?" Fragte ich leise. Unter normalen Umständen hätte ich ihn für seine Worte gerügt. Ich wollte nicht, dass er weiter redete, doch er sprach genau dass aus, was ich vor gar nicht allzu langer Zeit selber noch gedacht hatte. Er beachtete meine Worte nicht. „Weißt du noch, wieso du ihn immer so gehasst hast?" Fragte er, und ich versuchte mir diese Frage nicht selbst zu beantworten. Doch dass übernahm er für mich. „Weil er ein Idiot ist, der es genießt und ausnutzt, dass ihm alle zu Füßen liegen. Er macht sich an leichte Beute ran, nur um ihnen dann aus spaß das Herz zu brechen." Ich kniff meine Augen zu, auch wenn ich wusste, dass auch das nicht verhinderte, dass seine Worte zu meinem Gehirn vordrangen, und sich wie Glassplitter in mein Herz bohrten. „Ich wette, du warst seine letzte Trophäe. Und was machst du? Du wirfst dich vor seine Füße, als wärst du eine von denen. Als wüsstest du es nicht besser. Als wüsstest du nicht, dass er auf dir herumtrampeln wird, wie er es mit allen anderen auch getan hat." Ich schluckte. Ich versuchte, mich nicht daran zu erinnern, wieso und wie sehr ich James damals gehasst hab, doch ich schaffte es nicht. Ich erinnerte mich an den Jungen, der mehr Freundinnen gehabt hatte, als Haare auf dem Kopf. Derjenige, der mit keinem Mädchen länger als ein paar Wochen zusammen gewesen war. Irgendwann gab es in Hogwarts kaum noch ein Mädchen, mit dem er nie zusammen gewesen ist. Ich war in unserem und den zwei Jahrgängen unter uns eine der einzigen gewesen, so wie ich auch immer eine der einzigen war, die nicht auf ihn stand. Doch tatsächlich hat kein Mädchen außer mir ihn jemals gehasst, auch wenn ich nie verstanden hab, wieso kein anderer meine negativen Gefühle ihm gegenüber teilte. Doch jetzt war es, als wäre der James von früher ein völlig anderer, als der James, mit dem ich zusammen war. Als wären dass zwei verschiedene Personen. All die Eigenschaften, die ich immer an ihm verabscheut hatte, die mir so zu wider waren, waren scheinbar nicht länger Teil von dem James Potter, den ich kannte und Liebte. Vielleicht waren sie schon länger nicht mehr Teil von ihm, und ich hatte es nur nicht einsehen wollen. Doch dass spielte auch keine Rolle. Denn scheinbar war er rückfällig geworden. Ich bemerkte abwesend, dass Severus sich wieder an seinem Zaubertrank zu schaffen machte. Vermutlich war er jetzt zufrieden, mit dem, was er bei mir angerichtet hatte. Selbstzweifel, Zweifel an meiner Wahrnehmung, Zweifel an James, an unserer Beziehung, am meiner Menschenkenntnis... Scheinbar doch nicht, denn er machte weiter. „Ich hatte dich für inte-..." Ich unterbrach ihn. „Halt die Klappe." Sagte ich. Er sah auf. „Wie bitte?" Ich erwiderte seinen Blick. „Halt die Klappe." Wiederholte ich meine Worte. Sein Blick wurde Kalt, doch er sagte nichts mehr. Durch das Licht der Kerzen, welches von unten rechts kam, lagen seine Augen sowie seine linke Gesichtshälfte im Schatten. Seine Augen schimmerten schwarz. Wir betrachteten uns noch einen Moment gegenseitig, bis ich auf dem Absatz kehrt machte und das Klassenzimmer verlies.

Küss mich, Potter! Die FortsetzungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt