1. Kapitel

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,,Weg? Was meinst du mit ''weg'' ?"
Er schrie fast in ihr Ohr, an das sie sich ihr Handy presste. Das andere hielt sie sich mit der freien Hand zu, um den Lärm der Autos zu dämpfen.
,,Ich meine das so, wie ich's gesagt habe!", sagte sie, bemüht, nicht auch zu schreien.
Im Gehen wischte sie sich den Regen aus dem Gesicht, der an diesem Morgen noch kälter als sonst zu sein schien. Ein Auto fuhr über den Zebrastreifen, den sie in eben diesem Moment überqueren wollte, durch eine Pfütze, die größer war, als alle fünf großen Seen der USA gemeinsam, und durchnässte ihr somit jegliche Kleidung, abwärts der Taille.
Normalerweise hätte sie dem Typen hinterhergerufen, er solle doch bitte Sex mit sich selbst haben, doch sie war mit den Gedanken viel zu weit weg, um überhaupt zu realisieren, dass ihr knielanger dunkelgrauer Bleistiftrock tropfte und ihr Blazer mittlerweile einen viel dunkleren Farbton angenommen hatte.
,,Sie ist gestern ganz sicher nicht Heim gekommen", setzte sie mit belegter Stimme fort, ,,oder zumindest glaub ich nicht, dass sie heute morgen ohne ihren Rucksack zur Schule ist. Der stand nämlich noch da & die Bücher liegen auch alle immer noch genauso verstreut auf dem Fußboden, wie am Nachmittag."
Eine ganze Weile bekam sie keine Antwort, bis er schließlich seufzte und fragte:
„Hast du sie mal angerufen? Vielleicht hat sie ja wieder bei Bethany geschlafen; wäre doch nicht das erste Mal."
„Sag mal für wie blöd hältst du mich eigentlich!?"
Und das hatte sie dann doch geschrien.
Eine ältere Frau, die mit ihrem vor Kälte bebenden Chihuahua spazieren ging, musterte sie befremdlich; doch sie beachtete sie gar nicht weiter.
„Michael, wenn ich es dir doch sage: Sie ist weg!"
Sie betrat die Anwaltskanzlei, in der sie seit fast 14 Jahren arbeitete.
„Olivia ist gestern nicht nach Hause gekommen und ich habe verdammt nochmal keine Ahnung, wo sie ist."
Sie gab alles, dass der Kloß in ihrem Hals nicht platzte, bevor sie in ihrem Büro im achten Stock angekommen war. Als sie die Tür hinter sich zuzog fuhr sie fort:
„Bitte melde sie als vermisst, ich kann nicht von der Arbeit weg bleiben, nicht heute."
Ein weiteres Seufzen.
„Michael, hörst du mir überhaupt zu!?"
Sie rang die linke Hand, ließ sich in ihren Bürostuhl fallen, schaltete den Pc ein, griff sich an die Schläfe; eine sich ankündigende Migräne.
„Meinst du ich?", brachte ihr Freund am anderen Ende schließlich heraus.
„Ich kann heute genauso schlecht. Ich habe Unterricht und kann diesen Idioten hier schlecht auftragen, sich selbst vorzulesen."
Mit „Idioten" meinte er die Studenten der Humboldt-Universität und mit der Aussage, er könne diese nicht einfach allein in der Vorlesung sitzen lassen, hatte er wohl recht.
„Warte erstmal ab. Du wirst schon sehen; das klärt sich sicher alles von allein. Ich muss jetzt auflegen, wir sehen uns dann heute Abend. Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich liebe dich, bis dann", war das letzte, was er sagte, bevor er auflegte und sie allein ließ.

Genau wie sie erwartet hatte, klärte sich gar nichts von allein.
Sie hatte auch 17Uhr, kurz nach Feierabend, kein Lebenszeichen seitens ihrer 14jährigen Tochter erhalten und beschloss deshalb, statt sich direkt auf den Heimweg zu machen, die nächstgelegene Polizeistation aufzusuchen.
Wie sie dort so saß und wartete, dass sie ein Beamter hereinbat, fühlte sie sich reichlich unbeholfen, als hätte sie versagt, als wäre sie eine schlechte Mutter, die sich zu wenig kümmerte und deshalb nicht mal mehr wusste, wo ihr Kind war, die es verloren hatte, weil sie ihm zu viele Freiheiten gelassen hatte.
Sie machte sich Vorwürfe, ihre Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und je länger sie nachdachte, desto intensiver wurde auch diese Art Schwindelgefühl, so sehr drehten sich die Gedanken in ihrem Kopf, die allerdings je unterbrochen wurden.
Ein Klingeln; ihr Handy.
Ohne auf das Display zu sehen nahm sie den Anruf mit rasendem Herzen an; den Bruchteil einer Sekunde später hatte sie das Gefühl, es wäre stehen geblieben.
„Wenn du sie meldest, ist sie tot."
Die tiefe Raucherstimme war ihr vollkommen fremd, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle; sie wusste sofort, wen der Unbekannte meinte.
„Wer ist da?", presste sie hervor. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, sie bildete sich ein, Blut zu schmecken.
„Deine Vergangenheit."
Offensichtlich hielt der Anrufer sich für sehr lustig, denn er lachte ganze dreißig Sekunden, bevor er wieder todernst wurde & emotionslos sagte:
„Mach nicht auf unschuldig, Kleine."
„Klein", dachte sie, „mit 39.."
„Hör zu", er machte eine Pause, „du sagst den lieben Leuten von der Polizei jetzt, dass du eine dumme kleine Hure bist und dich in der Hausnummer geirrt hast oder was weiß ich nicht, womit du dich jetzt rausredest. Danach gehst du brav nach Hause und ich rufe dich zurück, wen dir dein hübsches Töchterchen lieb ist", wieder eine Pause.
Kurz bevor er auflegte ergänzte er:
„Pass auf, was du tust, Samantha."

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