8. Kapitel

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„Schon wieder?", fragte Michael sie missmutig; zweifelnd.
„Ja. Schon wieder." Sie seufzte.
Sie machte seit Tagen Überstunden was das Zeug hielt, fing zwei Stunden eher an, blieb drei, manchmal auch vier, länger.
„Was soll das?", fragte er weiter.
„Michael ich habe dafür jetzt wirklich keine Zeit. Ich hab dir gestern schon erklärt, dass uns allen der Lohn gekürzt wurde und ich jetzt eben ab und an ein wenig länger machen muss."
„Aha. Etwas länger", wiederholte er.
„Glaub es mir oder nicht, mir egal", sie stützte den Kopf erschöpft auf die Hände, „ich habe keine Zeit für sowas."
Sie legte den Hörer zurück auf den Apparat und widmete sich wieder ihren Akten. Prozesse über Kinderschänder, Dealer, Steuerhinterziehungen, Verkehrsunfälle, Diebstahldelikte und Vergewaltiger; alles bunt gemixt und absolut nicht stimmungsaufhellend.

Es war ermüdend und sie konnte die Augen kaum offen halten. Ihre Hände schmerzten vom stundenlangen Akten vom Regal auf den Schreibtisch Wuchten, vom Getippe auf der Tastatur, deren klang sie kaum mehr ertragen konnte, vom Augen reiben, die unkontrollierbar immer und immer wieder mit Tränen geflutet wurden.
Angst; das war alles, was sie seit Liv's Verschwinden, abgesehen von der Trauer, empfinden konnte. Sie machte sich Sorgen, ob es ihr sonst gut ging, sich jemand um sie kümmerte, was sie tat oder tun musste. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, sobald sie daran dachte, was sie selbst im Alter ihrer Tochter durchlebt hatte und womit sie die übrigen drei, fast vier, Jahre zugebracht hatte.
Sie hatte Angst, Olivia würde das selbe oder zumindest ähnliches passieren und beim bloßen Gedanken daran verschwamm der Bildschirm des PC's vor ihren Augen. Die Tränen flossen unaufhörlich, sie hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie nicht wollte, dass sie jemand, der eventuell in diesem Moment an der Tür ihres Büros vorbeilief, hörte. Sie schämte sich und konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte mal so geweint hatte.
Zu gerne hätte sie geschrien, ihren Frust abgelassen, aber sie konnte nicht, denn die einzige Möglichkeit, die ihr dazu - außer Schreien - einfiel, wollte sie nicht nutzen, worauf sie sich besann, als ihr Blick auf einen Ärmel ihres Blazers fiel, der die, mittlerweile doch sehr gut verblassten, Narben bedeckte. Schniefend wischte sie sich damit durch's Gesicht, schloss die Augen, atmete tief durch, drehte die Sitzfläche ihres Stuhls um hundertachtzig Grad und sah aus den deckenhohen Fenstern, die ohne Abstand ganze Wand einnahmen.
Es regnete wieder. Die Tropfen rannen an den Scheiben entlang, sorgten für eine noch bedrücktere Stimmung ihrerseits.
„Wo bist du..", flüsterte sie.

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