5. Kapitel

72 4 0
                                    

,,Hallo Schatz!"
Ihr blieb fast das Herz stehen, als Michael sie von der Küche aus begrüßte.
,,Hey", murmelte sie, sich Schuhe und Jacke ausziehend. Ihr Blick blieb an einem Bild auf der Kommode unter'm Spiegel hängen und sofort hatte sie wieder diesen Kloß im Hals.
Es zeigte sie, Olivia und deren Vater Michael, mit dem sie seit etwa neunzehn Jahren zusammen und seit gut einem Jahr verlobt war, beim gemeinsamen Ostseeurlaub im letzten Jahr. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie die brünette Kellnerin, des Eiscafés damals gebeten hatte, die drei zu fotografieren, damit sie wenigstens diese eine Bild hatten, auf dem sie alle gemeinsam zu sehen waren.
,,Hannah?"
Schnell wischte sie sich die Tränen aus den Augen, damit Michael, der aus der Küche in den Flur trat, sie nicht sehen konnte.
Hatte er sich doch eben noch bester Laune erfreut, so gefror seine Miene jetzt innerhalb von Sekundenbruchteilen.
,,Wo ist Liv?"
Sie konnte ihm nicht sofort antworten, denn der Name hallte in ihrem Kopf, als hätte sie ich zum ersten mal gehört.

Hannah.

Das war er. Der Name, den sie sich selbst vor etwas mehr als zwanzig Jahren gegeben hatte oder viel mehr hatte geben lassen.
Ihre neue Identität, deren Bezahlung sie sich die drei Jahre bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag mit Dingen hatte erarbeiten müssen, die sie am liebsten verdrängte und noch viel lieber vergessen würde, von denen niemand außer ihr selbst wusste.
,,Wo ist sie?", hörte "Hannah" ihren Freund erneut fragen.
,,Meinst du das ernst?", flüsterte sie, weil sie wusste, sie würde in Tränen ausbrechen, wenn sie in normaler Lautstärke sprechen würde.
,,Sie- Sie ist nicht wieder aufgetaucht?", stammelte er und sah sie fassungslos an.
Sie schüttelete den Kopf, schloss die Augen, sprach das Wort nur langsam und immer noch flüsternd aus: ,,Nein."
Schweigen.
,,Nein, sie ist nicht wieder aufgetaucht; ich habe sie vorhin als vermisst gemeldet, die suchen sie jetzt", log sie kurzerhand, da sie sich nicht in größere und ihn gar nicht erst in irgendwelche Schwierigkeiten bringen wollte.
Er sagte nichts, sah sich nur suchend im Raum um, als wäre da irgendetwas, dass in dieser Situation hätte helfen können.
Mit zwei Schritten war er bei ihr, nahm sie in den Arm, doch sie reagierte kaum darauf. Sie wollte nicht weinen; es hätte sie ohnehin auch nicht weiter gebracht.

Als sie an diesem Abend im Bett lag, versuchte sie nicht einmal zu schlafen.
Ganz im Gegensatz zu Michael, der schon gegen zweiundzwanzig Uhr von normalen Atemgeräuschen in eine Mischung aus Grunzen und Schnarchen überging.
Sie wollte und konnte nicht schlafen.
Wollen tat sie es nicht, weil sie Angst hatte beobachtet zu werden oder am nächsten Morgen allein aufzuwachen, Können tat sie es nicht, weil ihre Gedanken mal wieder Karussell fuhren.
Sie dachte nach.
Am meisten darüber, wie es sein konnte, dass sie gerade jetzt - nach geschlagenen zwei Jahrzehnten - wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurde. Jetzt, wo sie völlig neu angefangen und sich ein normales Leben aufgebaut hatte. Eine richtige Familie, eine Eigentumswohnung, genug Geld und Essen hatte; eben all das, wovon sie vor diesen zwanzig Jahren nur hätte träumen können.
Jedes Mal, wenn sie das Geräusch eines Autos - egal, ob direkt vor der Haustür oder scheinbare drei Straßen weiter - hörte, verkrampfte sie, zog die Bettdecke näher an sich heran, als würde die ihr auch nur im Entferntesten Schutz bieten können.
Sie hatte ein Gefühl, dass sie so lange nicht mehr empfunden hatte, dass es ihr vollkommen surreal vorkam. Da war ein Gefühl, dass sie so lange nicht mehr gespürt hatte, dass sie es kaum einordnen konnte.
Angst.
Pure Angst machte sich in ihr breit.
Angst, alles zu verlieren, was ihr lieb und teuer war, wieder allein zu sein, wieder Dinge zu durchleben, von denen sie noch heute physisch, vorallem aber psychisch gezeichnet war.
Sie hatte Angst um ihr Leben und die der Menschen, die sie liebte.

bloody scarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt