11. Kapitel

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Die darauffolgenden Tage lief es genauso, wie Malik gesagt hatte.
Sobald er ging und Raphael kam, schloss Liv sich im winzigen Badezimmer ein. Sobald Raphael ging, kam Malik wieder. Sie sah Rapha die ganze Zeit nicht einmal. Manchmal hörte sie ihn, wenn er die Wohnung, scheinbar betrunken, vielleicht auch high, betrat oder sie durch die - in ihrer Einbildung sehr schützende - Tür hindurch vollquatschte, manchmal auch anschrie, was für eine "dumme Nutte" und sonstiges sie doch war, aber sonst schaffte sie es, ihm gänzlich aus dem Weg zu gehen.
Olivia zählte die Nächte und kam auf zwölf weitere Tage, wonach zufolge sie seit etwa zwei Wochen in dieser Wohnung vor sich hin vegetierte und immer mehr verzweifelte.
Das - oder viel mehr "der" - einzige, der ihren Tag immer etwas besser machte, war Malik. Nach einiger Zeit konnte sie ihn sogar bitten, ihr dieses und jenes Lebensmittel mitzubringen und manchmal kam er ihren Bitten tatsächlich nach. Obwohl sie insgeheim in Frage stellte, wie legal er das alles beschaffte, war sie im schlussendlich einfach dankbar, dass er sich Zeit für sie nahm und auf sie aufpasste; auch, wenn sie ja wusste, dass er es mehr aus Eigennutz tat.
Irgendwie mochte sie ihn und sie unterhielten sich nicht mehr nur über Dinge wie, wie lange sie noch bleiben müsste oder warum er so lebte. Ihre Gespräche erreichten einen gewissen Grad an Persönlich- und Tiefgründigkeit. Er fragte endlich nach ihrem Namen und Olivia erfuhr, dass er achtzehn Jahre alt war, einen Hauptschulabschluss hatte und auch nie mehr als das angestrebt hatte, weil für ihn immer festgestanden hatte, dass er irgendwann so werden würde, wie sein Vater, auf den er allerdings sonst nicht weiter einging.

So saß sie also auch am dreizehnten Tag im Badezimmer und wartete, dass er an ihrer Tür klopfte.
Doch es passierte nichts.
Zwar hatte sich ihr Zeitgefühl unterdessen weitestgehend verabschiedet, aber sie hatte den Eindruck, es dauerte viel länger, als gewöhnlich.
Gerade deshalb zuckte sie erschrocken zusammen, als sie doch etwas hörte.
Die zufallende Wohnungstür und darauffolgende Schritte; die ganz sicher nicht Malik's waren.
Sie waren leichter, schneller, nahezu hektisch und als Liv die Stimme hörte, war sie noch viel verwirrter.
„Ähm.. Olivia?"
Das war eine Frau. Ein Mädchen. Irgendjemand fremdes hatte die Wohnung betreten. Jemand, der offensichtlich von ihr wusste.
Ihre Hände zitterten und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Die Situation überforderte sie maßlos und wieder schossen ihr die Tränen in die Augen.
„Ich bin Eysha", die Person schien nun etwas selbstsicherer. „Ich bin Malik's Schwester, er kann heute nicht zu dir."
Malik hatte eine Schwester?
Zaghaft öffnete Olivia ihr. Vor ihr stand ein Mädchen, dass wohl ein paar Jahre älter war, als sie selbst. Sie hatte ebenso dunkle Haare, wie ihr Bruder, die zu einem messy bun verknotet waren, einen etwas dunkleren Teint und war fast einen Kopf größer, als Liv, aber wog wahrscheinlich weniger, denn sie war wirklich ungewöhnlich mager. Ihre Wangenknochen stachen aus dem Gesicht hervor und ihre Schlüsselbeine waren unter den Spagettiträgern des Tops deutlich sichtbar.
„Hey", unterbrach sie ihre Gedanken. „Sorry, dass es so lang gedauert hat. Hatte bisschen Stress mit'm Typen." Sie lächelte entschuldigend; ihre Zähne waren gelblich und der linke Schneidezahn fehlte.
In der Hand der selben Seite hielt sie T-Shirt und Leggings, die sie Olivia nun präsentierte.

Sich in der Küche gegenübersitzend - Liv aß nichts; Eysha hatte ihr nichts mitgebracht und von vorherigen Tagen war nichts mehr da - musterten sie sich gegenseitig ausgiebig.
„Wie alt bist du?", fragte Eysha plötzlich.
„Vierzehn", erwiderte Liv zaghaft.
„Oh", machte Eysha. Stille.
„Ich bin Malik's Zwillingsschwester", sagte sie dann und grinste ihr bestes Zahnlücken-Grinsen.
„Warum hat er dich geschickt?" Olivia fummelte nervös an ihren Fingernägeln herum, bis sie bluteten. Eysha beobachtete das ganze aufmerksam. Ihre Augen waren genauso dunkel, wie Malik's.
Olivia merkte, dass sie ihn vermisste; sich Sorgen machte.
„Weiß nicht. Hat halt zutun. Dein Mitbewohner muckt in letzter Zeit ziemlich auf."
„Raphael ist ja vieles, aber ganz sicher nicht mein Mitbewohner..", sagte sie langsam und jede Silbe betonend.
„Nimm's ihm nicht übel."
Wie bitte?
„Er hat's nicht einfach, weißt du? Denkt immer noch, er müsste an Malik's Stelle stehen und hier das Sagen haben. Kommt nicht damit klar, dass sein Dad sich nicht durchsetzen konnte; dieser Versager."
Sie lachte. Olivia stutzte.
„Das verstehe ich nicht", gab sie zu.
„Ist doch ganz einfach", Eysha zog die Augenbrauen hoch und wieder erinnerte sie Liv an Malik - wo zur Hölle war er?
„Das ist wie mit Königen. Der Sohn vom Boss wird der nächste."
Könige? Sicher.
„Unser Dad wär das eigentlich nie gewesen, aber Rapha's Dad war ein Lappen, der sich nicht durchsetzen konnte", Lachen, „Er hat das nicht verkraftet, dass seine Schwester, also ich glaube, das war seine Schwester, seinen Dad kalt gemacht hat und so. Keine Ahnung, alles weiß ich da auch nicht. Jedenfalls war der voll verrückt danach, die zu finden und so und dann hat er irgendwie die Kontrolle über alles verloren. Baba hat das dann alles für sich beansprucht und seiner ist eh ziemlich schnell vor die Hunde gegangen. Die Leber, weißt du?"
„Oh." Jetzt war Liv die, die nicht wusste, was sie anderes sagen sollte. Das war alles ein wenig viel auf einmal, aber eigentlich ja gar nicht weiter wichtig. Sie wusste immer noch nicht, was sie damit zutun hatte und warum Raphael sie geholt hatte.
„Was ist mit deiner, also, natürlich Malik's und deiner, Mom? Wo ist sie? Und was ist mit eurem Dad passiert? Warum ist er nicht da?"
„Mom ist abgehauen. Anna hieß sie glaube ich. Keine Ahnung, ist ja auch egal. Dad ist vor paar Jahren gestorben. Überdosis und so."
Eysha erzählte das alles, als wäre es das normalste der Welt, so zu leben.
Sie sah auf ihr Handy.
„Ich muss wieder weg", sagte sie dann.
Olivia stand wortlos auf, verabschiedete sich dennoch, als sie schon halb im Flur stand.
Ihr Magen knurrte, als sie den Schlüssel herumdrehte. Sie dachte an Malik, aber auch an ihre Mom. Deprimiert kauerte sie sich auf dem Boden zusammen, weinte; tatsächlich das erste mal, seit mehreren Tagen.
Sie weinte sich in den Schlaf und wünschte sich, sie wäre bei ihren Eltern und Freunden, in ihrem Bett, statt auf diesen kalten Fliesen. Sie hatte blaue Flecke vom stundenlangen auf dem Boden Sitzen und ihre Nagelbetten waren blau unterlaufen, weil es in dieser ganzen scheiß Wohnung so abartig kalt war.
Irgendwann schaffte sie es doch, sich zu beruhigen. Sie schloss die Lider und fiel in den mittlerweile routinemäßiges unruhigen Schlaf.

bloody scarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt