7. Kapitel

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„Meintest du nicht vor zehn Minuten noch, Raphael hätte die Verantwortung für mich?"
Er hatte sie einige Treppen  nach oben in eine Wohnung gebracht. Der Raum, in dem sie die letzten schätzungsweise achtundvierzig Stunden verbracht hatte, hatte sich als Keller eines Blockhauses entpuppt, doch auch nach mehreren Blicken aus dem Fenster konnte sie nicht ausmachen, in welchem Stadtteil oder ob sie überhaupt noch in Berlin war. Da waren nur Häuser. Überall waren große, mit Graffiti beschmierte, ehemals weiße, mittlerweile graue, Blockhäuser.
„Ja", unterbrach er ihre Gedanken.
„Deshalb hab' ich dich ja auch in seine und nicht in meine Wohnung gebracht. Und deshalb ist das hier", er stellte eine Tüte und eine noch zu einem Drittel gefüllten Flasche Cola auf dem Küchentisch, an dem sie saß, ab, „eigentlich seins."
„Was ist das?"
Sie beäugte die Tüte.
„Was zu essen."
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, zog die Tüte näher zu sich, nahm das, was sich darin, in Papier verpackt, befand, heraus, faltete das Papier auseinander ..und schaute ihn an, als hätte er ihr einen gebratenen Labradorwelpen am Spieß vorgesetzt.
„Das ess ich nicht", brachte sie zähneknirschend hervor.
„Ich bin Veganerin."
Malik sah aus, als würde er denken, er hätte sich verhört.
„Was?"
„Ich esse und verwende keine tierischen Produkte."
„Was?"
Als er die Frage zum zweiten Mal stellte, klang er noch verwirrter, als beim ersten Mal.
„Was anderes ist grad nicht da", sagte er hastig.
„Ich kann das aber nicht essen."
„Dann iss nichts."
Er war genervt; wütend auf Raphael.
„Rapha kommt in ein paar Stunden, beschwer dich bei ihm."
Ihr Magen knurrte. Sie klappte das Brot des Döners mit spitzen Fingern auseinander und inspizierte die übrigen Zutaten, feststellend, dass jegliche Soße fehlte.
„Er isst den immer ohne", antwortete er ihr kopfschüttelnd, auf ihre Frage danach.
„Oh", machte sie. „Gibt's hier auch Besteck?"

Er hatte ihr geschlagene zwanzig Minuten dabei zugesehen, wie sie das Gemüse herauspickte, bis er schließlich auf sein Handy sah und sagte:
„Wir sehen uns später. A-also morgen, vielleicht", stammelte er. Wie süß.
„Du lässt mich hier allein? Keine Angst mehr, dass ich einfach verschwinde?"
Sie lachte. Er nicht. Er fragte nur trocken:
„Da drüber ist 'ne Heizung und ich würde auf mein drittes Bein wetten, dass Rapha hier noch Kabelbinder hat, also reiß dein Maul nicht so weit auf, klar?"
Sie schluckte, nickte.
„Klar."

Nachdem sie die Wohnung erkundet hatte, war sie noch deprimierter, als zuvor.
Die Küche war klein.
Der Tisch kippelte, musste von einem Stück Zeitung gerichtet werden. Der Kühlschrank war, bis auf die Reste des Döners, vollkommen leer. Sämtliche Schubladen waren es auch. Es gab Besteck für nur eine Person, wobei das Messer definitiv nicht vom selben Set war, wie Gabel und Löffel. Geschirr fehlte ebenso; ein einziger mittelgroßer flacher Teller. Im Backofen stand sonderbarerweise ein kleiner Topf.
Das Wohnzimmer, das gegenüber der Küche lag, war noch spärlicher eingerichtet.
Ein dunkelbrauner, fleckiger Zweisitzer ohne Kissen und ein Couchtisch, der völlig verloren unter einem der Fenster stand.
Das Badezimmer war noch kleiner gehalten, als die Küche.
Saß man auf dem Klo, stieß man beinah mit den Knien gegen die Dusche und wusch man sich die Hände an dem Waschbecken, über dem ein verdreckter Spiegel, in dem sich nichts mehr spiegelte, platziert war, dann hatte man fast die Griffe des Regals zwischen den Wirbeln, dessen Inhalt aus genau zwei schmutzig gelblichen Handtüchern und einer vermutlich bald aufgebrauchten Packung Ohrenstäbchen bestand.
Das Schlafzimmer verließ sie sogar schneller, als sie es betreten hatte, denn dank des weit offen stehenden Fensters war es eiskalt und besonders einladend sah das unbezogene Bett, dem Kissen und Decke fehlten, auch nicht aus.
Die Wände waren wohl alle einmal von schneeweißer Tapete überzogen, doch auch diese fehlte stellenweise. Da, wo sie noch da war, war sie fleckig. Zwar waren es keine Brandflecken, wie auf Sofa und Matratze, aber alles erdenkliche andere;
Olivia wollte gar nicht erst weiter darüber nachdenken.
Das einzige, was sie sonst registrieren konnte, war die Tatsache, dass in den Türschlössern von Bad und Wohnzimmer je ein Schlüssel steckte.
Sie war müde, ging zurück in's Wohnzimmer, rollte sich an einer Ecke des Sofas zusammen, von der sie meinte, sie wäre etwas sauberer. Auf den Teppich setzen wollte sie sich nicht. Er stank und war, wenn möglich, das dreckigste in der ganzen Wohnung.
Hatte sie die vergangenen Stunden die Gedanken an ihre Eltern und ihr eigenes zu Hause - das, ganz im Gegensatz zu ihrem derzeitigen Aufenthaltsort, tatsächlich eines war - verdrängen können, so kamen sie jetzt doppelt zurück.
Sie began wieder zu weinen, fühlte sich allein und hilflos. Sie hatte Angst davor, was passieren würde, wenn dieser Raphael wiederkam und was er, Malik und mögliche andere, ihr bisher unbekannte, Leute mit ihr vorhatten.
Und so sehr sie es auch hoffte, sie konnte nicht einschlafen.
Die Sonne schien durch das Fenster über dem Couchtisch, direkt auf das Sofa und sie; eine golden hour, zu der sie normalerweise mit ihren Freundinnen in der Stadt Bilder für Instagram und andere social media Plattformen gemacht hätte.
Stattdessen kauerte sie sich in einer fremden Wohnung auf einem Polstermöbel zusammen und weinte
bis sie einen Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte.

bloody scarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt