6. Kapitel

68 4 0
                                    

„Was soll ich damit!?", brüllte der Mann - zumindest ging Olivia in diesem Moment davon aus, es wäre ein Mann, auch, wenn sein Körper anhand der Silhouette eher einem Jungen glich, zu dem die Stimme nicht passte - "Raphael", den er zuvor gerufen hatte, an.
Wer besagter Raphael war, konnte sie nicht sehen und mit der äußert liebevollen Bezeichnung "damit" war wohl sie gemeint.
„Verdammte Scheiße, Rapha, das ist ein Kind!", brüllte er weiter und scheinbar noch lauter.
Zu gern hätte Liv sich die Ohren zugehalten, doch da ihre Hände ja seit neustem an diesem Heizungsrohr hingen, konnte sie diesem Wunsch nicht nachkommen, also rief sie ihm entgegen:
„"Das" hat einen Namen, du Penner!"
Woher sie auf einmal den Mut dazu aufbrachte wusste sie nicht, schob es aber erst einmal auf den Hunger, da bekam sie für gewöhnlich immer schlechte Laune, was sich gerade jetzt auch an ihrer Ausdrucksweise äußerte, denn für gewöhnlich, sprach sie nie so; vorallem nicht mit Fremden.
„Halt's Maul!", brüllte er darauf direkt in den Raum hinein.
„Halt mal den Ball flach."
Als sie das hörte, wusste Liv, wer da noch an der Tür war.
"Raphael" war der Rothaarige von vorhin, der Schuld daran hatte, dass ihre Hände taub und wahrscheinlich schon blau angelaufen waren.
„Verkauft sich auch, wenn du's richtig machst."
Wie bitte?
„Du widerst mich an."
Letzteres war wieder der Taschenlampen-Typ.
Raphael lachte.
„Das widert dich an, aber alles ab fünfzehn ist okay?"
„Ich bin doch nicht viel jünger!", schrie sie, beleidigt und ohne weiter darüber nachzudenken.
Der Strahl der Taschenlampe, der bis dato auf den Boden gesunken war, richtete sich wieder auf sie und erneut musste sie die Augen schließen.
Eine Weile blieb es still. Dann sagte Raphael:
„Siehst du? Alles palletti."
Wieder war er der einzige, der lachte.
„Wo hast du sie her?", fragte der andere; Blick und Taschenlampe immer noch auf sie gerichtet, wie sie mit zusammengekniffenen Augen erkennen konnte.
„Zellendorf", hörte sie Raphael sagen, jedoch viel leiser, als vorher, nahezu zaghaft, dass sie es kaum verstehen konnte.
„Was!?", jetzt brüllte sein Gesprächspartner wieder.
„Erst schleppst du dieses Kind hier an und dann willst du mir erzählen, dass sie aus einem dieser drecks Nobelviertel kommt und wir wahrscheinlich jetzt schon die Bullen am Hals haben, weil die lieben Eltern ihre verzogene Göre suchen!?"
Liv spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, so wütend war sie. Fast hätte sie wieder etwas gesagt, sie öffnete schon den Mund, da viel Raphael ihr in's Wort: „Ja", ein einziges Wort, dass die Bombe endgültig zum Platzen brachte.
Ein Tumult entstand; mehr Stimmen kamen hinzu, kurz darauf beruhigte sich die Lage wieder.
Die Tür stand nur noch einen Spalt breit offen und einen Moment schien es, als stünde niemand mehr im Flur, doch dann schwang sie wieder weiter auf und jemand schaltete das Licht ein.
Es war der Schreihals, der Raphael zur Sau gemacht hatte, der jetzt eintrat und einen sehr nervösen Eindruck machte; er steckte sogar die zitternden Hände in seinen olivgrünen Sweater, der aussah, als wäre er mindestens eine Nummer zu groß.
Dazu trug er schwarze Skinnyjeans und Nikes.
Seine Haare waren so pechschwarz, wie Liv's, zerzaust oder einfach nur leicht lockig, seine Augen, mit denen er sie auf's Neue musterte, hatten den selben Grünton, wie sein Pullover.
„Was wollt ihr von mir?", stotterte Olivia unbeholfen.
Sie kam sich unterlegen und schwächlich vor, wie sie da so an die schmutzige Wand gelehnt, auf noch viel schmutzigerem Beton sitzend, nur wenige Meter vor ihm hockte.
„Ich will gar nichts von dir", sagte er missmutig, dennoch in gewisser Weise tonlos.
„Hör zu", sagte er nach einer längeren Pause.
„Rapha hat jetzt die Verantwortung für dich, mir ist egal, wer du bist oder wo du her kommst, dass er ein Vollidiot ist, dafür kannst du nichts. Aber lass dir eines gesagt sein: versuch abzuhauen und du wirst es bereuen."
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
„Ich hab' echt Durst", sagte sie, als er schon halb in der Tür war.
„Und Hunger hab' ich auch."
Er stoppte in seiner Bewegung, schien, als wüsste er nicht, was tun. Entgegen ihrer Erwartung kam er zu ihr zurück, diesmal viel näher, kniete sich vor sie, strich sich durch die Haare, sah ihr direkt in die Augen und fragte: „Versprichst du, keine Scheiße zu machen?"
Sie nickte langsam, unschlüssig, was die Frage sollte.
Ohne weitere Umschweife zog er ein Taschenmesser, dessen Klinge so aussah, als könne man damit auch sehr gut ein Schwein schlachten, aus seinem Sweatshirt und durchschnitt die Kabelbinder.
Olivia quiekte auf, als das Metal ihre Haut verletzte, weil das Plastik zu eng geschnürt war und er das Messer somit kaum darunter geschoben bekam.
„Wie heißt du?", fragte sie, ihre Hände knetend, weil sie hoffte, dass sie dadurch schneller wieder durchblutet werden würden.
„Warum willst du das wissen? Damit du der Polizei dann genau sagen kannst, wer so dumm war, deine Flucht zu ermöglichen?"
Er zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Nein", sie musste schmunzeln, „nur würde ich dich eher ungern mit "Herr und Gebieter" oder so ansprechen müssen."
Zu ihrer Enttäuschung fand er ihren Witz weniger amüsant, als sie, denn er ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte nur, genauso tonlos, wie zu Beginn ihrer Unterhaltung: „Malik."

bloody scarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt