Kapitel 7

6 0 0
                                    

Am nächsten Morgen riss mich mein Wecker nach einer viel zu kurzen Nacht aus dem Schlaf. Ich musste zwar heute nicht arbeiten, aber ich wollte endlich in den Straßen Helsinkis mein Glück probieren. Meine Gedanken kreisten immernoch um die schicksalhafte Begegnung gestern nachts und meine neuen Freunde. Ob sie denn jetzt überhaupt noch meine Freunde waren? Immerhin war ich mit Samu verschwunden und hatte dann schreiend sein Haus verlassen. Genau wusste ich es auch nicht, aber da die Chancen sehr gering waren, dass ich sie überhaupt jemals wiedersehen würde, verwarf ich den Gedanken. Mein Kopf dröhnte noch etwas von dem Alkohol, obwohl ich gar nicht so viel getrunken hatte, es musste der Tequila Schuld gewesen sein! Bei dem Gedanken an den Tequila musste ich schmunzeln. So eine offensive Art wie die von Samu hatte ich nur selten an Menschen erlebt, aber Finnland war eben anders. Ich griff nach der Postkarte auf meinem Nachttisch und starrte sie an. Nur von diesem kleinen Stück Papier hatte ich meine komplette Zukunft abhängig gemacht. Ich vermisste meine Eltern so schrecklich. Als ich meine Augen schloss, hatte ich meine Mutter vor Augen:

Wir saßen im Auto. Meine Mutter drehte sich zu mir auf dem Rücksitz um, sie blickte mich glücklich an und wischte mir mit dem Taschentuch etwas Pudding aus dem Gesicht. Ich lachte herzhaft auf, weil sie mich dabei an der Wange kitzelte. Danach nahm sie mir den leeren Puddingbecher aus der Hand. „Engel, ich hab dich lieb." sie zwinkerte mir während diesen Worten erfreut zu. „Mami, ich hab dich auch lieb." sagte ich lachend. „Papi, dich hab ich auch lieb", rief ich und erhoffte mir eine Reaktion meines Vaters. Kurz blickte er mir in die Augen und erwiderte meine Worte. Aufeimmal wurde alles schwarz. Meine Eltern schrien, ich weinte.

Oft hatte ich diese Szenen als Alptraum vor meinen Augen, nun verfolgten sie mich sogar schon wenn ich munter war.

Als wäre es real hörte ich meine Mutter noch lauter schreien als zuvor. Das Auto lag auf dem Kopf. Nachdem der LKW-Lenker eingeschlafen war, geriet der LKW auf unsere Straßenseite und mein Vater veriss das Lenkrad um nicht frontal in den LKW zu knallen. Dabei fielen wir von der Brücke.

Ich zwang mich dazu meine Augen wieder zu öffnen und merkte, dass ich bitterlich begonnen hatte zu weinen. Es war mir wiedermal zu viel geworden. Ich konnte mich an jedes noch so kleine Detail vor und während dem Unfall erinnern. Es dauerte 14 Stunden bis uns jemand fand, der LKW Lenker begang Fahrerflucht. Ich hörte wie meine Eltern vor meinen Augen starben und konnte nichts dagegen tun.

Schnell stand ich auf und lief unter die kalte Dusche. Als das eiskalte Wasser meinen Körper überströmte, fühlte ich mich noch schlechter. Warum musste ich mich so genau an all das erinnern können? Im Normalfall hatten Kinder in meinem Alter nach einem solchen Ereignis eine posttraumatische Amnesie. Nur Wenige konnten sich im Laufe ihres Lebens überhaupt wieder an etwas davon erinnern. Die Ärzte meinten es wäre fast unmöglich, dass ich alles bis ins kleinste Detail beschreiben konnte. Ich bekam das bis heute noch oft gesagt, aber so war es nunmal. Nach allen traumatischen Ereignissen die in meinem Leben passierten, konnte ich mich bis ins Detail erinnern. Das erschwerte mir mein Leben ungemein, denn vergessen oder verdrängen konnte ich nichts.

Ich ließ mich auf den Boden sinken und verharrte im eiskalten Wasser. Jeder Tropfen prickelte auf meiner Haut und mein Her schlug wahnsinnig schnell. Vorsichtig streckte ich meinen Arm nach dem Temperaturregler aus und schaffte es, das Wasser etwas wärmer zu drehen. Noch immer saß ich da und dachte nach. Aufeinmal schoss mir das Bild von gestern Nacht durch den Kopf als Samu mich küsste. Ich schüttelte widerwillig meinen Kopf wie ein kleines Kind, nachdem man ihm gesagt hatte, dass es keine Kekse vor dem Essen haben darf. Was er nun in meinen Gedanken verloren hatte, wusste ich nicht. Genauso wenig wusste ich, warum sich genau dieser erste Kuss, nachdem wir sein Haus betraten, so eingebrannt hatte.

Ich wusste nicht wie lange ich noch unter dem mittlerweile warmen Wasser der Dusche saß, es waren mehrere Stunden. Nachdem ich mich wieder gut genug fühlte, stand ich auf und trocknete mich ab. Es war mittlerweile nachmittags, und ich hätte mir den frühen Wecker sparen können, denn nun würde ich sowieso erst gegen 16 Uhr beim Brunnen ankommen. Heute trug ich einen weißen Strickpullover un erneut eine schwarze Skinny Jeans. Dazu zog ich mir meine schwarzen Converse an und mein Haar ließ ich offen. Ungeschminkt trat ich mitsamt meiner Gitarre in den Flur des Hauses. Eine Jacke nahm ich mir nicht mit, weil heute die Sonne schien und es relativ warm war. Ich wollte unbedingt Anni noch das Geld für das Zimmer geben, bevor ich das Haus verlies, also suchte ich sie. Sie saß in ihrem Arbeitszimmer, als ich sie fand, und schien beschäftigt zu sein mit einigen Unterlagen. Ich hatte mit ihr vereinbart, dass ich ihr jeden Sonntag für die kommende Woche die Miete bar zahlen würde, und deswegen tat ich das auch so. Als ich klopfte, bat sie mich herein und nahm mich in den Arm. Ich klärte noch mit ihr, dass das Zimmer für mich noch für die nächsten paar Monate reserviert war, ich könne aber jederzeit die Reservierung verlängern lassen. Ich bedankte mich bei ihr und meine Fuße trugen mich wie von selbst zum Brunnen.

The madness - two worlds collide (Sunrise Avenue)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt