Kapitel 8

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Wir kamen nach kurzer Zeit in einer Seitengasse Helsinkis an. Samu schnappte sich meine Hand und zog mich geradewegs durch einen kleinen Wochenmarkt. Bei allen Verkäufern und anderen Leuten musste ich mich entschuldigen, da sich Samu so geschickt durch schlingeln konnte, ich schaffte das allerdings nicht. Nachdem ich eine Kiste mit Äpfeln umgestoßen hatte, löste ich mich aus Samus Griff und fing an die über die ganze Straße kullernden Äpfel wieder zusammen zusammeln. Einige hatten Druckstellen durch den Aufprall und andere waren gar verschwunden. Tausend Mal versuchte ich mich bei der freundlichen Verkäuferin zu entschuldigen, die mir allerdings beteuerte, dass ihr das nichts ausmache. Schließlich schenkte sie mir sogar noch einen Apfel der ganz ohne Druckstellen geblieben war und ich verabschiedete mich. Samu stand etwas abseits vom Geschehen an eine Hausmauer gelehnt und fing an zu lachen als ich auf ihn zukam. Umso mehr er lachte, desto finsterer wurde mein Blick, immerhin war er daran Schuld. Hätte er mich nicht so euphorisch durch die Menge gezogen, wäre das nicht passiert.

„Hey Finne, ausgelacht?" spottete ich. Sein Lachen wurde immer breiter und ich schien ihn zu amüsieren. „Du sollst nicht so lachen, das ist doch alles deine Schuld", schimpfte ich, doch selbst das ließ ihn kalt. „Sisi, ich kann doch nichts dafür, dass du so ungeschickt bist. Immerhin habe ich die Kiste nicht runtergestoßen", bei diesen Worten zwinkerte er mir zu und das Lachen verging ihm immernoch nicht. Schön langsam fühlte ich mich echt ausgelacht. „Hör mal, Finne. Hättest du mich nicht so schnell gezogen, hätte ich die Kiste nicht runtergestoßen. Wie hätte ich dir in diesem Tempo mit meinen kurzen Beinen auch unfallfrei nachkommen sollen?" sagte ich ernst, während ich ihm dabei böse anstarrte. Kurz erlosch das Lachen auf seinen Lippen und ich ahnte definitiv nichts Gutes. Er sah nachdenklich aus und beäugte mich skeptisch. Auf einmal bewahrheitete sich meine Vermutung und auf einen Ruck hob er mich hoch und warf mich über seine Schulter. „Nun hast du kein Problem mir mit deinen kurzen Beinen nachzukommen!" und nun lachte er wieder lauthals. Ich hing über seine Schulter und konnte nichts dagegen tun. Sämtliches Strampeln und Betteln ließ ihn kalt. Nun spazierte er mit mir auf der Schulter weiter die Gasse entlang, als würde ich nichts wiegen. Mittlerweile hatte ich jegliches Wehren gegen die jetzige Situation bereits aufgegeben und hoffte nur, dass wir bald am Ziel waren, weil es langsam Abend wurde und ich schon etwas fror. Als könnte Samu meine Gedanken lesen, ließ er mich langsam von der Schulter gleiten und stellte mich am Boden ab. „Hier wären wir. Das ist mein absolutes Lieblingscafé", sagte er und hielt mir die Tür auf, damit ich eintreten konnte. Es war wohlig warm in dem kleinen Räumchen, und nach kurzer Zeit sah ich auch einen Kamin in der Ecke vor sich hin knistern, was mir die ungestellte Frage auch gleich beantwortete. Samu und ich nahmen an einem kleinen Tisch an einer Fensterfront Platz. Der etwas ältere Kellner brachte uns wortlos einen Krug Wasser und nahm danach unsere Bestellung auf.

Nicht lange mussten wir auf unsere Heißgetränke warten, dann stand vor mir auch schon mein gewünschter Chai-Latte und Samu nippte von seinem Espresso. Es brauchte keinen Studienabschluss in Psychologie um zu sehen, dass Samu etwas bedrückte. Seitdem wir das Café betreten hatten, schien irgendwas an ihm verändert zu sein. Da ich nicht wusste, ob es mir überhaupt zustand ihn zu fragen was los sei, blieb ich einfach stumm und spielte mit meinen Fingern. Kurz sah er mich einfach nur an, bis er seinen Mund endlich öffnete: „Sisi, es tut mir... ich weiß ich hab gestern überreagiert. Ich hätte dich nicht darauf ansprechen sollen", gab er von sich. Es wirkte bedrückend, dass er wusste, zumindestens glaubte zu wissen, woher mein Schmerz kam. Aber böse sein konnte ich ihm nicht. Immerhin wusste er nicht, dass er einen wunden Punkt treffen würde. „Ach Samu, lass uns das was vorgefallen ist einfach vergessen. Du scheinst ein netter Kerl zu sein, also konzentrieren wir uns doch auf was anderes. Erzähl mir von dir", forderte ich ihn auf und seine Miene erhellte sofort. Nun sah er fast ein bisschen wie ein kleiner Junge aus.

„Also, wie ich heiße weißt du ja bereits. Ich bin etwas außerhalb von Helsinki aufgewachsen. Ich habe zwei Geschwister. Sonst ist mein Leben eigentlich nicht recht interessant. Aber lass uns zu dir kommen, geheimnisvolle Fremde. Was treibt dich nach Finnland?" ich musste schmunzeln, weil er so locker von sich erzählte. Kurz überlegte ich, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll oder ob ich besser lüge. Die Entscheidung fiel dann auf einen schmalen Pfad zwischen wahr und falsch, denn lügen konnte ich noch nie und ich wollte ebenfalls nicht, dass er zuviel erfährt. „Naja eigentlich treibt mich nicht viel hierher, außer eine uralte Postkarte." ich nippte von meiner Latte und schaute ihn an. In dem gelblichen Licht dieses Cafés schienen seine Augen noch mehr zu strahlen, als sie es sowieso taten und durch das Kaminfeuer glänzten seine blonden, etwas zu langen Haare wie Feuer. Eine Flamme, die mich durchaus verbrennen könnte. Samu schien meine Antwort nicht ausreichend zu sein, deshalb guckte er mich fragend an und wartete, ob ich noch etwas sagen würde. Um ihn nicht zu enttäuschen, sprach ich zügig weiter. „Die Postkarte haben mir meine Eltern als ich klein war geschickt, nachdem ich wegen einer Grippe nicht in den geplanten Urlaub mitkommen durfte. Ich hab sie immer bei mir getragen, und als ich nach einem Ausweg gesucht habe, fand ich sie erneut in meiner Brieftasche. Zwei Tage später ging mein Flug und hier bin ich nun", sprudelte es aus mir heraus. Das war etwas mehr gewesen, als ich ihm eigentlich erzählen wollte, aber es schien nicht zu stören. Plötzlich platzte eine Frage aus Samu heraus, die er wohl nicht länger zurückhalten konnte oder wollte. „Woher kommst du?", sprach er zügig, um meinen Redefluss nicht zu stark zu unterbrechen. Es war wohl soweit. Ich hatte mit dieser Frage gerechnet, aber doch gehofft, dass er nicht nochmal fragt, nachdem ich in der Bar nicht antworten wollte. Ein Blick in seine blauen Augen verriet mir, dass ich ihm meine Herkunft nennen konnte, wenn ich es denn wollte. Was sollte dieser Finne auch großartig tun? Immerhin waren die Chancen sehr gering, dass er schon einmal in Österreich gewesen war und noch geringer war die Chance, dass er jemanden kannte. „Ich komme aus Österreich. Nicht dass dich das jetzt überraschen würde, oder? Hast du es denn nicht an meinem Dialekt erkannt?" endlich konnte ich ihn fragend anschauen und auf eine Antwort warten, denn kurz war er komplett verstummt. Etwas entgeistert suchte er nach den passenden Worten, schien sie nicht zu finden und leerte in einem Zug seinen Kaffee. Ich konnte mir nicht erklären, warum er so reagierte. Immerhin hätte ich jedes Land nennen können, und es hätte nichts an der Tatsache geändert, dass ich nicht von hier war. Samu starrte eindringlich auf seine Hände, mit denen er fest die kleine Espresso-Tasse umklammerte. Irgendetwas in mir sagte mir, dass er etwas verheimlichen würde, aber ich konnte nicht sagen was. Meine Intuition zog es vor, sich erst einzuschalten, wenn es bereits zu spät war. Das Gesagte konnte ich nun nicht einfach wieder ungesagt machen. Samu sah mich an und ergriff dann endlich das Wort. „Entschuldige, ich verbinde nur unangenehme Erinnerungen mit dem deutschsprachigen Raum", er schüttelte kurz seinen Kopf, als ob er versuchen würde, die Erinnerungen einfach abzuschütteln, dann redete er weiter. „Warum bist du nun hier in Finnland? Österreich ist doch schön", fragte er schließlich. Okay, ich habe gewusst, dass da noch ein ‚warum' kommen würde. Kurz blickte ich aus dem Fenster, und müsste feststellen, dass es wie aus Eimern regnete und bereits relativ dunkel geworden war. Ein Regentropfen lief gerade direkt neben mir an der Fensterfront entlang, als würde er vor etwas flüchten. Flüchten, ja, das konnte ich auch gut. „Nun gut, du musst wissen, dass mir Österreich einfach zu österreichisch war", scherzte ich und hoffte wirklich, dass er es darauf beruhen lassen würde. Da er zu lachen begann, dürfte er das Thema abgehakt haben. Ein Themenwechsel würde uns nun gut tun. „Samu, was sind denn deine Hobbies?" nun wich das Lachen einem glücklichen Lächeln. Der Themenwechsel schien auch ihn wirklich glücklich zu machen. „Naja, ich reise gerne, lerne neue Kulturen und Menschen kennen. Aber oft verbringe ich meine Freizeit auch einfach nur mit einer Pizza auf der Couch. Nebenbei mache ich Musik, das weißt du ja schon. Und weiß treibst du, wenn du nicht gerade Straßenmusik machst, oder unschuldigen Männern die Köpfe in Bars verdrehst?" fragte er schelmisch. Ich versuchte seine Andeutung so gut es ging zu ignorieren und antworte ihm ohne große Umschweifungen. „Ich kellnere, da bleibt nicht viel Freizeit." Nun wusste er es, dass ich bloß eine Kellnerin war. Ob ihn das stören würde? Ich wusste es nicht. „Okay, geheimnisvolles Mädchen aus Österreich. Was ist dein Geheimnis?" scherzte er nun. Für mich wirkte es allerdings nicht wie ein Scherz. Denn ich hatte ein Geheimnis, nein, ich hatte sogar mehrere.

„Weißt du Samu, ich bin nicht gut im Small-Talk. Ich kann all dieses oberflächliche Gerede über Hobbies und Familie nicht", kurz hielt ich inne um an seinem Blick zu erkennen, ob er mir folgen konnte. „Du kannst mit mir über alles reden, Kindheitstrauma, Ängste, Träume und Wünsche. Du bist ein echt lieber Kerl, aber bitte lass uns tiefsinnigere Gespräche führen", sprach ich ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn er mich wirklich kennenlernen wollte, dann würde er mir hoffentlich diesen Wunsch erfüllen können. „Ich verstehe dich Sisi, ich bin für dieses Kennenlernen echt auch nicht geschaffen", er fuhr sich durch die Haare, die mittlerweile mehr verwuschelt als am rechten Platz waren, dann grinste er mich an. Es war also okay für ihn, das freute mich ungemein. Ich nahm ein Feuerzeug aus meiner Tasche und zündete die Kerze, die mitten am Tisch stand, an. Samu verfolgte jede meiner Bewegungen mit seinen Augen. Als sich unsere Blicke erneut trafen, ergriff er das Wort. „Sisi, eines interessiert mich wirklich: bist du glücklich?" Nun war ich sprachlos. Eine unpassende Frage, auf die sich nicht so leicht eine Antwort finden ließ. Meine Schuld, denn ich hatte mir ein tiefgründigeres Gespräch mit diesem atemberaubenden Mann gewunschen. Sein Blick fesselte mich, als würde er versuchen, die Antwort aus meinen Augen ablesen zu können. Ich sah ihn eindringlich an. „Samu, das ist schwierig. Aber bevor du jetzt kommst mit ‚ja oder nein' kann ich nur ein deutliches ja sagen. Ich weiß, dass ich noch um Welten glücklicher werden kann hier in Finnland, allerdings weiß ich auch, dass ich gerade glücklicher bin, als ich seit 11 Jahren war", ich versuchte die Tränen zu unterdrücken bei dem Gedanken an meine Eltern. Meine Augen mussten sicher schon gefährlich geglitzert haben. „Ach Sisi, wieviel muss ein Mensch wohl durchmachen um endlich glücklich werden zu dürfen? Ich glaube du bist einer der Wenigen, die diese Frage beantworten können. Wenn du darüber reden möchtest, bin ich für dich da", flüsterte er behutsam, denn diese Worte waren nur für mich bestimmt. Tröstend nahm er meine Hand in seine und so saßen wir einige Zeit, bis ich mich wieder etwas gefangen hatte. „Dankeschön, aber ich möchte wirklich nicht reden", erwiderte ich auf sein Angeblt, denn er sollte wirklich nicht wissen, was in mir vorging. Noch weniger sollte er wissen, was passiert war in meiner Vergangenheit. „Du musst auch nicht, Kleines. Es war nur ein Angebot, und es gilt trotzdem noch. Dafür hat man doch Freunde, oder?" schelmisch grinste er mich an. Das waren wir nun? Waren wir wirklich Freunde? „Nun denn Samu aus Finnland, du bist hiermit offziell mein erster Freund!" triumphierte ich. Samu sah mich skeptisch an, bevor er nach den passenden Worten suchte. „Du hast noch keine Freunde hier?", fragte er etwas verwirrt. „Man braucht doch Freunde, wie überlebt man sonst?", setzte er seine entsetzten Gedanken fort. „Naja, ich hatte keine Zeit jemanden kennenzulernen", protestierte ich mit erhoben Händen. Samu musterte mich und wieder hatte ich das Gefühl, die Zahnräder in seinem Kopf rattern zu sehen. Da war sie nun, meine Intuition, und flüsterte mir, dass Samu eine dumme Idee haben würde. „Komm, wir verschwinden von hier. Ich hab Hunger, du auch?" sagte er während er bereits seine Jacke wieder anzog und aufstand. Ich nickte zaghaft und folgte ihm nach draußen. Es war komplett dunkel und regnete immernoch furchtbar stark, weswegen Samu sofort ein Taxi herbei winkte und mich förmlich hinein drückte. Immernoch wusste ich noch nicht, was er vor hatte und es machte mich wahnsinnig. Ich hasste Überraschungen wirklich! Nachdem ich kaum stillsitzen konnte, fing ich an ihn zu nerven. „Duuuu Samuu, als mein Freund musst du mir immer die Wahrheit sagen, das weißt du doch, oder?" stichelte ich. Er runzelte dir Stirn und nickte dann, selbst er zweifelte diese Frage an. „Na dann musst du mir sagen wohin wir fahren und was du vorhast! Ich sterbe sonst noch vor Neugier!" vervollständigte ich mein Anliegen und Samu wusste nun, dass die Frage bloß dafür gedacht war, ihn zu überzeugen, mir zu sagen wohin wir fuhren. Denn immernoch konnte ich kein Finnisch und daher verstand ich auch die kurze Konversation zwischen dem Fahrer und Samu natürlich nicht.

Samu verriet mir wie erwartet nichts und so musste ich wohl warten. Nach einiger Zeit merkte ich, dass wir langsam aus der Stadt hinaus fuhren und kurz darauf kam mir auch die Umgebung bekannt vor. Als wir dann direkt vor Samus Haustür standen, die ich am Vortag noch zugeknallt hatte, bewahrheitete sich mein Verdacht. „Und was machen wir jetzt hier?" fragte ich und sah ihn mit großen Augen an. „Da du keine Freunde hast.." er zog die Tür hinter sich ins Schloss nachdem ich eingetreten bin „haben wir einiges an seelisch wahnsinnig wichtiger Freundes-Zeit nachzuholen." er lächelte übers ganze Gesicht, und steckte sogar mich mit seiner Art zu lachen an.

„Du machst es dir auf der Couch bequem und suchst dir einen Film aus, ich bestelle Pizza." sagte er bevor er in der Küche verschwand.

The madness - two worlds collide (Sunrise Avenue)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt