Ich wachte durch helle Sonnenstrahlen in meinem Gesicht auf. Plötzlich traf es mich wie einen Schlag und ich saß kerzengerade in dem schmalen Bett. Die Ereignisse der letzten Stunden durchfluteten meinen Geist. Ich griff mir an die Schläfen und massierte diese.
Meredith ist tot. Ich bin auf einem Schiff mit mir völlig unbekannten Männern. Wir segeln nach England. Francis will mir helfen.
Ich seufzte leise und schaute mich in dem Schlafzimmer um. Es war leer. Hatte Richard gestern nicht hier geschlafen? Etwas verschlafen rollte ich mich aus der Wolldecke und stand auf. Leise auf Zehenspitzen gehend, öffnete ich die Tür zu dem zweiten Raum und erblickte Richard laut schnarchend auf dem dunklen Diwan. Sein Hemd war bis zu seinem Bauchnabel aufgeknüpft, seine Hose hing locker an seinen Hüften und seinen Hals zierten ein paar wenige, dunkle Flecken. Sogar ich, die keine Erfahrung mit so welchen Dingen hatte, wusste was er gestern wohl getrieben hatte oder besser gesagt mit wem.
Wieso habe ich mir bloß eingebildet, dass er anders sei? Jetzt macht es noch weniger Sinn, dass ich hier bin. Hoffentlich hat Francis jemanden gefunden, der mich wieder nach Frankreich bringt.
Ich wusste nicht wieso, aber bei dem Anblick wie Richard so da lag mit all seinen Gliedmaßen von sich gestreckt, fühlte ich mich irgendwie traurig. Besonders, weil mir klar war wie er die letzte Nacht verbracht hatte. Was bildete ich mir denn ein? Wäre es, denn besser gewesen, wenn er sich zu mir gelegt hätte? Nein! Ich hätte noch nicht einmal gewusst was ich tun sollte. Außerdem war ich auch ganz bestimmt nicht irgendeine Hure, zu der man sich einfach so legen konnte, wenn man Lust hatte.
Ohne weiter nachzudenken, ging ich zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Unglaublich! Richard hatte gestern bestimmt vergessen sie wieder abzuschließen! Ich schaute mich vorsichtig nach ihm um nur um mich zu vergewissern, dass er seelenruhig und tief und fest schlief. Schulternzuckend und mit einem Grinsen auf dem Gesicht verließ ich das Zimmer und schritt den langen Flur entlang. Es war komischerweise sehr still an Bord. Schlafen sie alle noch? Bestimmt haben sie alle gestern ausgelassen gefeiert während ich wie ein kleines Kind in der Kajüte lag.
Ich ging weiter und klopfte dann an einer Tür. Ich wusste gar nicht wieso ich das tat, aber irgendwie packte mich die Neugier. Da niemand antwortete, öffnete ich die Tür einfach und befand mich in einer kleinen Kajüte. Es war niemand da. Ich sah mich etwas um und fand auch nichts sonderlich interessantes, sodass ich die Kajüte so schnell verließ wie ich sie auch betreten hatte. Ziellos schlenderte ich weiter den Flur entlang und schaute mich dabei nach allen Seiten um.
"Wer bist du denn?", fragte mich eine hohe Stimme.
Wie ein kleines Kind, das man bei etwas Verbotenem ertappt hatte, drehte ich mich mit glühenden Wangen um und blickte in das Gesicht einer jungen blonden Frau. Nur einige Bruchteilsekunden später, fiel mir ihr volles halb geöffnetes Dekolleté auf. Ich musste mich wirklich zusammen reißen, dass mir nicht die Kinnlade auffiel. Sie wurde bestimmt nur so von Männern umzirzt. Ich bemerkte, dass sie mich forschend und etwas abweisend mit ihren grünen Augen musterte.
Sollte ich ihr wirklich meinen wahren Namen nennen? Wer weiß wer diese Frau ist? Vielleicht wurde sie von Richard geschickt, weil er endlich aus seinem Trunkschlaf erwacht ist und mich schon sucht? Oder vielleicht hat sie Francis geschickt, weil er mich nicht im Raum finden konnte und mich jetzt auch sucht? Naja, ihrer Kleidung nach zu urteilen, könnte sie natürlich auch...eine Dirne sein...oder?
"Elisabeth", antwortete ich schlicht und verschränkte meine Arme vor der Brust um wenigstens etwas selbstbewusster zu wirken.
"Ich kenne keine Elisabeth auf diesem Schiff. Und ich kenne eigentlich alle Leute hier...wo bist du untergebracht?", fragte sie mit einem misstrauischen Unterton.
Was sollte ich ihr sagen? Dass ich in Richards Kajüte schlafe? Das würde ganz bestimmt kein gutes Licht auf mich werfen noch dazu würde es sie bestimmt mehr auf den falschen Gedanken bringen. Nein, ich musste mir hier wirklich was gutes ausdenken. Vielleicht, dass ich seine Schwester bin? Und eine eigene Kajüte habe...und dass ich vielleicht noch seekrank bin? Nein. Das ist es! Ich bin eigentlich seekrank, und deswegen schlafe ich bei Richard in der Kajüte, da er seine arme Schwester nicht alleine lassen kann!
"Ich bin die Schwester des Kaufmanns Richard. Ihr habt mich die letzten Tage nicht gesehen, weil ich die See nicht so vertragen habe und deswegen nur in seiner Kajüte war. Die ersten Tage war die See sehr stürmisch, findet ihr nicht? Ich wollte eigentlich nur kurz nach oben um frische Luft zu schnappen, weil es jetzt ruhiger geworden ist", erklärte ich.
Und als wolle mir das Universum einen Streich spielen, fing das Schiff plötzlich an wieder leicht hin und her zu schaukeln. Ich kippte leicht gegen die Wand und konnte mich noch mit meinen Händen abfangen. Innerlich schalt ich mich natürlich für diese Lüge. Ich hätte es nicht so ausschmücken sollen.
"So so...", summte sie noch immer unbeeindruckt und hielt mir dann mit einem leichten Lächeln die Hand hin, "Mein Name ist Anne, ich bin eine der Dirnen hier auf dem Schiff"
Ich sah sie verblüfft an. Also doch eine Dirne! Nie hätte ich von einer Frau erwartet, dass sie das so selbstsicher von sich sagen könnte. Und es hing sogar etwas Stolz in ihren Worten! Waren die Engländer, denn alle so sündhaft?
Sie musste meine Gedanken wohl an meinem Blick gelesen haben, denn sie schmunzelte leicht und erklärte dann schulterzuckend: "Ich mache kein Geheimnis daraus. Man sieht es mir sowieso an. Außerdem", und jetzt fing sie leise an zu kichern: "Macht es auch Spaß und man lernt so einiges über die Menschheit"
Unfähig etwas zu erwidern, blickte ich sie einfach stumm an. Ich war beeindruckt von ihrer Art. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so eine Frau gesehen, die so selbstbewusst war.
"Sitzt der Schock über meine Worte so tief?", scherzte sie und verfiel in schallendes Gelächter.
Ich merkte wie sich wieder meine Wangen rot färbten und mir heiß wurde. Das war peinlich, Mary.

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Die Tochter des Bauern
Historical FictionMary, ein junges Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen wird eines Tages wegen ihrem Vater von einem geheimnisvollen Mann und seinen Männern entführt. Was sie dabei noch nicht weiß: Es ist nicht alles so wie es scheint und sie vielleicht auch nicht die...