Silas - Kapitel 80

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Beim Erwachen spüre ich ein leichtes Gewicht auf meiner Brust, und wenige Sekunden später erinnere ich mich daran, wo ich bin, mit wem und wieso. Ich schlucke hart als die Gedanken an das Dach zurückkehren, und ich wieder vor mir sehe, wie Valerie weint und mich anschreit, in der Hoffnung, mich endlich von der Kante wegzuholen.

Ich erinnere mich deutlich an den Druck der von Sidneys Umarmung ausging, und wieder spüre ich einen leichten Stich im Herzen. Mr. Reynolds hat mit mir gestern noch über diverse Einrichtungen gesprochen, in denen ich gut behandelt werden könnte. Er geht stark davon aus, dass ich unter einer sogenannten PTBS leide – also eine posttraumatische Belastungsstörung. Jedoch wollte er noch keine genaue Diagnose machen, da es ja unser erstes Gespräch war. Jedoch schien mein Verhaltensmuster ziemlich gut zu passen.

Ich schlucke und drücke Valerie, die immer noch schläft, einen leichten Kuss auf den Kopf, ehe ich mich wieder in den Kissen zurücklehne und warte, bis irgendwas passiert. Von draußen scheint die Sonne rein, und anhand der nassen Fassaden des Krankenhauses kann ich erkennen, dass es wohl noch länger geregnet hat. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gegen halb zehn ist, und ich wie erwartet nicht sehr viel geschlafen habe. Es geht einfach nicht.

Die Herzschläge von Valerie springen regelmäßig auf dem Monitor auf und ab, und eine Weile schaue ich ihnen einfach dabei zu, in Gedanken bin ich jedoch schon wieder bei den Einrichtungen, die mir Mr. Reynolds vorgeschlagen hat. In einer ist er selbst Therapeut, und natürlich hat er mir diese auch wärmstens empfohlen.

Ein weiterer Pluspunkt ist, dass die Station, auf die ich kommen würde, im gleichen Gebäude ist wie die Stationen für Essgestörte, und Valy wird auf eine von diesen Stationen verlegt. Dementsprechend können wir uns vielleicht etwas öfters sehen.

Ich seufze leise und konzentriere meinen Blick auf Valerie, mit dem Ziel, mir jedes Detail ihres Gesichts einzuprägen. Ich fange bei ihrem weichen Kinn an und gehe dann weiter hoch zu ihren Lippen, die unglaublich weich aussehen, und es auch sind. Gerade bilden sie ein minimales Lächeln, und ich würde den Moment gerne festhalten. Ihre kleine Stupsnase ist von kleinen Sommersprossen übersehen, die wirklich niedlich aussehen. Ihre langen, dichten Wimpern sind pechschwarz und sehen schon ohne Schminke nach dem aus, wofür sich andere wie Jelena erstmal Fake Wimpern ankleben müssen.

Obwohl Valy's Gesicht auf Grund ihres Gewichts etwas eingefallen ist, ist es trotzdem wunderschön, und ich könnte Stunden damit verbringen, sie einfach nur anzustarren und dabei zu spüren, wie mein Herz aufgeht. Ich werde wahrscheinlich nie wissen, womit ich dieses Mädchen verdient habe, aber eines ist mir klargeworden: ich habe nicht alleine darüber zu entscheiden, ob sie an meiner Seite ist oder nicht, und dieses Mädchen jetzt alleine zu lassen, wäre die schlechteste Idee die ich bisher hätte haben können.

Sie braucht mich, und ich brauche sie. Ein kleines Lächeln verirrt sich auf meine Lippen, und ich schliesse nochmal kurz die Augen in der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas Schlaf zu bekommen.

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„Und du bist dir wirklich sicher, dass du das durchziehen willst?"

Valy sieht mich aus ihren blauen Augen lange an, und ich nicke leicht. „Ja, bin ich" bestätige ich ihre Frage mit einer festen Stimme, und werfe einen Blick auf meine Sporttasche, die fertig gepackt auf meinem Krankenbett liegt. „Ich werde dich vermissen" murmelt Valerie leise, und schling kurz darauf ihre dünnen Arme um meinen Bauch. Ich drücke das kleine Mädchen fest an mich und vergrabe meine Nase in ihrem Haar.

„Glaub mir Val, ich werde dich noch viel mehr vermissen" nuschle ich, und schliesse kurz die Augen um ein letztes Mal für eine lange Zeit den Geruch ihrer Haare zu riechen. „Hast du Angst?" fragt Valy irgendwann leise in meinen Pulli hinein, und sieht zu mir auf. Ich schüttle den Kopf und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nein, eher Respekt vor dem, was jetzt kommen wird. Aber ich bin mir sicher, dass ich dort in guten Händen bin. Dass wir beide dort in guten Händen sind."

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