Kapitel 1

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Mein Zimmer war kalt und schäbig. Das Bett war zerknittert und das Waschbecken, im Badezimmer, drohte langsam aber sicher aus der Wand zu fallen. Als ich am späten Nachmittag vor dem Riverside Motel hielt, glühte der Asphalt unter der sengenden Hitze South Carolinas. Ich hatte ganz vergessen wie unerträglich heiß die Südstaatensommer, im Vergleich zu meiner Wahlheimat, waren.

Ich habe New York viel zu überstürzt verlassen, also durfte ich mich nicht über die fehlenden Annehmlichkeiten beschweren, mahnte ich mich. Denning hatte ohnehin keine besonders guten Unterkünfte zu bieten. Ein paar kleinere Gaststätten hier und dort, und ein Motel, meine derzeitige Zuflucht am Rande der Stadt, waren alles was diesem Ort zur Verfügung stand. Nicht, dass sie sonderlich besucht wurden. Die meisten Leute nutzten die Zimmer ohnehin nur für eine Nacht. Touristen verirrten sich hier selten.

Eine Flasche Billigwein aus der Minibar, in der Hand, streifte ich durch das stickige Zimmer, wobei mein Blick immer wieder aus dem Fenster glitt. Ich fühlte mich wie eine Kriminelle, die vor dem Gesetz floh. Dabei sollte ich, in wenigen Monaten, die glücklichste Frau der Welt sein. Und doch versteckte ich mich, wie Bonnie, in diesem muffigen Motelzimmer, während sich Clyde mit seiner Assistentin auf Long Island vergnügte. Dieser verfluchte Dreckskerl...

Wutschäumend, lief ich auf und ab, dachte dabei an meine letzten Stunden in New York. Ich spielte die Szene immer und immer wieder in meinen Gedanken durch. Gott weiß, wieso ich beschloss zu ihm zu fahren. Normalerweise störte ich Henry nie, wenn er in seinem Atelier an einem neuen Gemälde arbeitete, da war er besonders eigen. Vielleicht ahnte ich bereits, dass etwas nicht stimmen konnte. Kaum betrat ich seine heilige Stätte, zerbrach meine, bis dato, perfekte Welt in viele unbrauchbare Einzelteile.

Ich hatte übel Lust etwas zu zerschlagen. Noch bevor dieses Zimmer, meinem Zorn, zum Opfer fiel, grub ich meine Zähne in den Unterarm. Eine unangenehme Angewohnheit, die mir seit High School Tagen anhing. Aber es war die einzige, für mich funktionierende Möglichkeit, den seelischen Schmerz für einen Moment zu betäuben, ohne mich dabei mit Alkohol und Medikamenten voll zu dröhnen.

Die Fahrt vom Flughafen hier her, der Wein und die immer wieder aufblitzende Erinnerung an Henrys Affäre, hinterließen ein widerliches Ziehen in meinem Kopf. So, als würde jemand die ganze Zeit, mit einem Hammer, dagegen schlagen. Bevor mir schwindelig wurde, bettete ich meinen Körper auf das kühle Laken.

Ich hatte es also tatsächlich getan, Henry und mein Leben in New York zurückgelassen, um in dieses verdammte Kaff zurückzukehren. Meine Gedanken drehten sich im Loop. Bloß ein paar Stunden in Denning brachten die negativen Gefühle in mir hoch, die ich all die Jahre zu verdrängen versuchte. Sicher hatte Henry viel zu meiner Verfassung beigetragen, aber Denning und mich verband etwas viel tiefgehenderes. Ich nahm einen großzügigen Schluck aus dem Flaschenhals, bis sich kurz darauf ein blasser Schleier über meine Gedanken legte und meinen Körper in die dumpfe Welt des Schlafes beförderte.

Am nächsten Morgen schlug die Wirkung der letzten Nacht erst richtig zu. Ich saß unter der Dusche und wartete nur darauf, dass mir ein vernünftiger Grund einfiel, mit dem nächsten Flugzeug zurückzukehren.  

Frustriert musste ich feststellen, dass jedes Gebäude, jede Person, mit der ich etwas zu tun hatte, eine unmittelbare Verbindung zu Henry bedeutete. Er war es, der mich vor Denning rettete, als ich diesem Ort, vor fünf Jahren, den Rücken kehrte.

Kaum trat ich aus der Duschkabine; eine Wasserlache hinter mir ziehend, klingelte mein Smartphone. War das sein ernst? Er glaubte also, dass seine Anrufe etwas bewirken könnten. Auf der anderen Seite der Leitung war es beängstigend still. Nicht einmal ein leises Atmen war zu hören.

„Zum Teufel mit dir, Henry." Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen, als ich seinen Namen aussprach. Bevor er auch nur den Hauch eines Satzes über die Lippen bringen konnte, legte ich auf.

Out Loud - Wer immer du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt