Die Lichter hinter ihm

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Jetzt saß er da auf dieser Mauer. Drei Meter ging es unter seinen Füßen hinab. Angst? Nein, die hatte er nicht. Vor ihm dämmerte die Dunkelheit der Straße dahin. Ruhe. Hinter ihm flimmerten die Lichter. Stimmen, Gelächter, Bässewummern, Menschen. Viel zu viel, doch zum Glück alles gedämpft. Hier auf dieser kalten Steinmauer, fernab von alldem, war es Nacht. Auf der anderen Straßenseite sprang eine Katze über den Zaun und verschwand. Er war allein. So, wie er das gerade wollte. Und er war einsam. So, wie er das nie wollte. Aber was machte es schon für einen Unterschied, ob er sich hier einsam fühlte oder zwischen all diesen betrunkenen "coolen" Menschen. Was um alles in der Welt hatte ihn dazu bewogen, hier hinzugehen?
In seinen schönsten Tagträumen würde jetzt jemand auf ihn aufmerksam werden, sich neben ihn setzen und seine Einsamkeit teilen. Sie würden zusammen schweigen, vielleicht würde dieser Jemand seinen Arm um seine Schulter legen und irgendwann würde er beim Blick in die Tiefe aus lauter Selbstmitleid etwas kryptisch bedeutungsvolles sagen wie: "Das erinnert mich an ein Liebeslied: If you fall, I fall with you. If you hurt, I feel it too". Dann würde er ironisch lachen und sagen: "Aber das ist Schwachsinn". Und dann... ja dann wusste er auch nicht weiter. An dieser Stelle stieg seine Fantasie aus beim Versuch, diesen Tagtraum weiterzuträumen. Deshalb stellte er sich einfach immer wieder den Anfang diese Szene vor. Manchmal kam er sich sehr lächerlich vor. Er wusste, dass das nie auch nur im Ansatz so passieren würde, erst recht nicht heute, selbst wenn jemand auf ihn zukommen würde. Sowas passiert immer nur in Filmen, die ein verzerrtes Bild der Realität darstellen.
Außerdem war er doch selbst schuld, dass er niemanden hatte. Selbstausgrenzung, ständiges Anderssein, fehlendes Zukommen auf die anderen und keine Anstrengungsbereitschaft, Freundschaften aufzubauen: Kein Wunder, dass keiner für ihn da ist, wenn er wie jetzt gerade vor allen wegrennt.
Er schaute auf seine Armbanduhr. Halb zwölf. Hinter ihm ging alles auf seinen Höhepunkt zu. Vor ihm baumelten seine Füße in drei Meter Tiefe. Vielleicht war es besser, jetzt heim zu gehen. Niemand wird ihn vermissen, es wird keiner merken, dass er fehlt. Er wartete noch fünf Minuten auf dieser Mauer, dann kletterte er hinab und lief nach Hause. Zwischendurch musste er einmal kurz lächeln. Morgen war Sonntag. Er freute sich schon, an einen Ort zu gehen, an dem so einiges falsch läuft.

Innere Kinder weinen oft - Große Jungen lachen nochWo Geschichten leben. Entdecke jetzt