Die Briefe meines Erzeugers türmen sich in einem Karton, den ich seit Wochen nicht mehr in der Hand hatte. Ich bin mir noch nicht einmal sicher wo sich der Karton derzeit befindet. Ich weiß er wurde in einen meiner Umzugskartons geräumt, die ich jetzt in meinem neuen Zimmer stapeln, aber in welchem der vielen weiß ich nicht.
Ich erinnere mich noch an den Tag an dem ich ausnahmsweise Nach Hause durfte. In Begleitung von Lexys Eltern. Eine Firma, die von meinem Erzeuger engagiert wurde, räumte Stück für Stück die Wohnung leer, in der ich mein Leben lang gewohnt hatte. Ich saß dabei inmitten des Geschehens und habe Anweisungen gegeben. Ich habe den ganzen Tag geweint. Um jedes Kleidungsstück meiner Mutter, jeder Fetzen Erinnerung, der an all dem hing, was in dem Container vor dem Haus wanderte.
"Ist sonst alles okay?", fragt mich mein Erzeuger und holt mich damit aus den Erinnerungen an die Wohnungsauflösung. Ich sehe ihn ungläubig an. Okay? Es ist absolut nichts okay!
"Es ist gar nichts okay!", zische ich und spüre das Brennen in meinen Augen. Ich rücke mit meinem Stuhl vom Tisch ab und verlasse mit festen Schritten das Esszimmer. Nur aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie mein Erzeuger seinen Kopf hängen lässt. Verdienter Weise, denke ich mürrisch.
In meinem Zimmer angekommen lasse ich mich auf meinem Bett nieder und starre an die Decke. Die kahle weiße Fläche wirkt ruhig. Ganz anders als ich mich gerade fühle.
"Er gibt sich Mühe."
Mein Blick wendet sich zur Tür. Kilian steht an den Türrahmen gelehnt da und mustert mich.
"Er ist ein Arsch. Mein Mutter ist Tod und er fragt mich, ob alles okay ist? In meinem Arm steckte eine Scherbe so groß wie Polen, mir tut jeder Knochen weh und stell dir vor ich vermisse meine beste Freundin. Es ist fucking gar nichts okay!"
Wie automatisch wirft er einen Blick auf meinen Arm. Die Narbe brennt unter seinen Blick. Er wirkt so forschend. Aber er sagt nichts und ich tue das auch nicht. Ich bleibe einfach stumm auf der Matratze liegen und bewege mich nicht, gebe meinen Muskeln keinen Grund zu schmerzen. Jede Bewegung tut weh. Jeder Gedanke. Jedes Gefühl. Als ich spüre wie ein Gewicht die Matratze neben mir hinunterdrückt, zucke ich leicht zusammen, zwinge mich aber dazu weiter stumm an die Decke zu starren.
"Was ging dir durch den Kopf, als es passiert ist? Woran hast du gedacht, als das Auto auf dich zukam?" Kilian Stimme ist so ruhig, dass ich mir beinahe wünsche, dass er weiterspricht, aber den Gefallen tut er mir nicht. Er wartet langsam atmend auf eine Antwort meinerseits. Doch ich weiß nicht was ich ihm antworten soll. Mein Kopf ist wie leergefegt. Ich konzentriere mich und versuche einen Gedanken zu fassen zu bekommen.
"Das Auto kam nicht auf mich zu. Es kam auf meine Mum zu." Das ist alles was ich sagen kann. Ich weiß nicht mehr genau woran ich gedacht habe oder was mir durch den Kopf ging. Aber vermutlich war es etwas wie "Bitte lass es schnell vorbei sein." Aber diesen Gefallen konnte mir keiner erfüllen.
"Hattest du Angst?" Was ist das denn für eine bescheuerte Frage. Natürlich hatte ich Angst.
"Es ist wie im Film. Die Scheinwerfer kommen einfach auf einen zu ohne dass man was dagegen tun kann. Man kann nicht weglaufen, sich nicht bewegen, erstmal fühlt man nichts und dann setzt plötzlich der Schmerz ein." Nicht nur der körperliche. Auch der seelische.
Kilian bleibt summ, als warte er darauf, dass ich noch was sage. Aber ich hab nichts mehr zu sagen. Wir bleiben schweigend nebeneinander liegen und hören einander beim Atmen zu. Obwohl es irgendwie eine komische Situation ist, hier neben ihm zu liegen, obwohl ich ihn überhaupt nicht kenne, beruhigt mich sein langsames Atmen.
Sein Shirt spannt über seiner Brust, die sich regelmäßig hebt und senkt. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich nur auf ihn. Woran denkt er wohl gerade? Ob er es schon bereit mir hinterher gekommen zu sein?"Weißt du, dein Dad ist okay. Er gibt sich wirklich Mühe." Wieso muss er ihn wieder zur Sprache bringen? Es ist dahin mit meiner Ruhe und ich setze mich ruckartig auf.
"Mühe geben bringt mir meine Mum auch nicht wieder", erwidere ich mit leicht zickigem Tonfall. Kilian erhebt sich vom Bett, als hätte er meine Antwort nicht gehört und geht Richtung Tür. Im Rahmen hält er kurz inne und beginnt mit entschlossener Stimme zu sprechen.
"Nichts bringt sie wieder, Luna. Gar nichts. Weder die Mühen deines Vaters, noch dein Wunsch, dass alles nur ein verdammter Traum war. Sie kommt nicht wieder." Er hat Recht, aber ich muss trotzdem nicht akzeptieren, dass mein Erzeuger jetzt einen auf Vater des Jahres macht.
"Ich wünschte ich wäre gestorben."
"Das wäre auch nicht besser gewesen." Er hat Recht. Das hätte meine Mum nicht verkraftet. Eine einzelne Träne läuft meine Wange hinab, gefolgt von einer weiteren und weiteren. Das Brennen der Tränen auf meiner erhitzten Haut brennt sich tief in mein Herz ein. Ich will das Schluchzen aufhalten und schlage mir die Hand vors Gesicht, um mich selbst zum Schweigen zu zwingen. Aber trotzdem kann ich das erstickte Schluchzen nicht komplett verhindern.
Eine starke Hand umschließt meine und drückt sie. Diese kleine Geste löst so viel in mir aus, dass ich mich nicht mehr zurückhalten kann. Ich beginne laut zu weinen, ziehe meine Knie Richtung Brust und krümme mich. Kilian zieht mich an sich und legt seine Arme um meinen Körper. So sitzen wir einfach auf meinem Bett, ich in seinen Armen, sein Kinn auf meinem Kopf ruhend.
"Es ist okay", flüstert er leise. Ich atme stockend ein, aber weine einfach weiter, bis mir keine Tränen mehr übrig bleiben. Mein Hals schmerzt, meine Augen brennen und meine Hand klammert sich an Kilians. Es sollte mir wohl peinlich sein, aber ich genieße einfach die Zuneigung die er mir gerade gibt. Dabei kenne ich ihn doch gar nicht. Er ist ein fremder, trotzdem vertraue ich ihm. Er ist ja irgendwie mein Bruder. Oder?
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Jones - Luna und Kilian
Teen FictionLuna weiß genau, dass das was sie diesen Sommer erwartet hat kein Traum, sondern grausame Realität ist. Während sie sich damit abfinden muss, dass statt sonnen am Rhein plötzlich ein neues Leben samt Stiefbrüdern vor ihr liegt, wird sie das Gefühl n...